"Man lebt ein Leben in Isolation und Ausgrenzung"

Nevroz Duman im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 16.10.2012
Man habe kaum Rechte und lebe ständig mit der Angst vor der Abschiebung, sagt die aus der Türkei stammende Kurdin Nevroz Duman. Sie kam mit zwölf Jahren nach Deutschland und wurde acht Jahre nur geduldet. Um mehr Freiraum für Flüchtlinge zu erkämpfen, ist sie in der Organisation "Jugendliche ohne Grenzen" aktiv.
Liane von Billerbeck: Wer es als Flüchtling nach Deutschland geschafft hat, der ist zwar erst mal in Sicherheit, bekommt Essen und ein Dach über dem Kopf. Arbeit und Bildung oft eben nicht, worunter gerade die jungen Flüchtlinge leiden. Nevroz Duman wollte daran etwas ändern. Die junge Kurdin aus der Türkei ist deshalb in der Organisation "Jugendliche ohne Grenzen" aktiv, die Flüchtlinge gegründet haben, um sich Freiraum und Zugang zu Arbeit und Bildung zu erkämpfen. Bevor Sie das Gespräch mit ihr hören, schildert Günter Rohleder den Der Selbstmordversucht eines jugendlichen afghanischen Flüchtlings in Sachsen (MP3-Audio) Fall eines jungen afghanischen Flüchtlings in Sachsen-Anhalt, der sich nach Ablehnung seines Asylantrages umbringen wollte.

von Billerbeck: Eine Geschichte, wie sie immer wieder geschehen kann. Der junge Afghane war auch Mitglied bei "Jugendliche ohne Grenzen". Meine Gesprächspartnerin Nevroz Duman ist dort aktiv. Sie ist 23 Jahre alt, Kurdin aus der Türkei mit befristeter Aufenthaltserlaubnis. Frau Duman, wissen Sie, wie es dem Flüchtling aus Afghanistan jetzt geht?

Nevroz Duman: Ja, wir hatten Kontakt zu den Leuten, die vor Ort sind und mit ihm gesprochen haben, und es geht ihm schon ein bisschen besser. Innerhalb von ein paar Wochen wird sich dann zeigen, wie es ihm dann wirklich so geht.

von Billerbeck: Wie haben denn die anderen Mitglieder von "Jugendliche ohne Grenzen", die ja sich zum Ziel gestellt haben, Flüchtlingen Zugang zu Arbeit und Bildung zu verschaffen, auf diesen Fall reagiert, als sie davon gehört haben?

Duman: Also, das ist ja kein Einzelfall. Das passiert in letzter Zeit zu oft, und wir haben uns natürlich erst einmal darum gekümmert, mit den Leuten vor Ort in Kontakt zu kommen, oder mit seinen Freunden, die ja auch zum Teil bei uns, bei JoG mitmachen, um erst mal herauszufinden, wie es ihm geht und wie die Situation ist. Um danach zu schauen, was man eigentlich dann in Sachsen-Anhalt machen kann. Ob man in die Öffentlichkeit gehen soll oder nicht.

von Billerbeck: Sie selber sind ja auch ganz jung, als Kind noch, nach Deutschland gekommen. Wie ging es Ihnen damals? Wie war Ihre Situation?

Duman: Ich bin mit 12 nach Deutschland gekommen und habe hier auch einen Asylantrag gestellt. Und meine Situation sah auch nicht viel anders aus. Ich hatte auch all die Schwierigkeiten hier in Deutschland, die die meisten Flüchtlinge hier haben. Ich war geduldet acht Jahre lang, und Duldung heißt halt die Aussetzung der Abschiebung, das heißt, man hat kaum Rechte, man ist von der Abschiebung bedroht und muss mit der Angst leben. Und das hat acht Jahre lang bei uns gedauert und währenddessen hatten wir Ausbildungsverbot und ich durfte nicht auf irgendeine weiterführende Schule gehen und man darf sich nicht frei bewegen wegen der Residenzpflicht. Und das heißt, wenn ich irgendwo anders hin wollte, eine andere Stadt, irgendwie die Tante besuchen wollte, muss man erst bei der Ausländerbehörde das beantragen. Und wenn die das erlauben, dann kostet das auch zehn Euro. Das heißt, es ist alles beschränkt. Man lebt ein Leben in Isolation und Ausgrenzung.

von Billerbeck: Sie haben aber beschlossen, sich damit nicht abzufinden, und haben, gemeinsam mit anderen, eine Organisation gegründet, die heißt "Jugendliche ohne Grenzen", die eben genau diese Ihnen vom deutschen Staat gesetzten Grenzen sprengen will. Und Sie haben die mehrfach gesprengt, denn Sie haben sich auch Bildung ertrotzt, erst den Hauptschulabschluss und dann sogar den Realschulabschluss. Wie haben Sie das geschafft?

Duman: Ja, also ich bin auf "JoG" zugestoßen, da gab es "JoG" schon, also ich bin die Hessenkoordinatorin jetzt hier für "JoG", aber als ich "JoG"-Leute kennengelernt habe, da war ich noch von der Abschiebung bedroht und habe dann halt gesehen, okay, es gibt auch andere Leute, die in einer gleichen Situation sind wie ich, die aber selber versuchen, was zu machen. Und das hat mir halt Mut gemacht. Und ich habe die gesehen und dachte: Wow, okay, also ich kann aus meinem Leben trotz aller Schwierigkeiten, die ich habe, was machen. Und dann habe ich mit denen angefangen, mich für Flüchtlingsrechte zu engagieren, ehrenamtlich zu engagieren und habe mich für meine Rechte sozusagen und für die von meinen Freunden eingesetzt. Und ich habe dann dabei gelernt, dass wenn man selber für sich selbst spricht, wie gut das einem tut, also dass man dabei ist, dieses Selbstbewusstsein bekommt. Dass man nicht mehr irgendwie als Opfer da steht. So hat man die ganze Zeit das Gefühl. Wenn man Unterstützung kriegt, und alle versuchen, irgendwas zu tun, aber man selber ist nicht in der Lage, irgendwas zu machen, dann gibt es einem mehr Kraft für den Kampf mit der Ausländerbehörde oder mit den Behörden sozusagen. Und das ist gar nicht so einfach, da nicht traumatisiert rauszukommen.

von Billerbeck: Nun haben Sie aber geschildert, wie schwer es ist, dass viele Flüchtlinge sich nicht von dem Ort oder dem Kreis, in dem sie untergebracht sind, wegbewegen können, dass ihnen das Recht auf Bildung verwehrt wird. Wie schaffen Sie es denn, sich zu vernetzen, sich möglicherweise sogar zu treffen?

Duman: Wenn wir ein Treffen organisieren, dann bestimmen wir natürlich erst einmal einen Ort – wo treffen wir uns, wo gibt es die Möglichkeit, sich zu treffen. Dann schreiben wir Einladungen für unsere Freunde, die noch geduldet sind, das heißt, die unter Residenzpflicht leiden, und die halt von der Ausländerbehörde eine Befreiung brauchen, schreiben wir eine Einladung an die Ausländerbehörde, dass sie bitte den Jugendlichen Befreiung geben sollen. Manchmal klappt das, manchmal klappt das auch nicht. Vorher kümmern wir uns natürlich auch um Finanzen, damit wir die Fahrkarte natürlich auch kaufen können, weil die Jugendlichen, die dabei sind, die kriegen ja zum Teil nur Gutscheine. Also die kriegen kein Geld, sondern nur in Form von Sachleistungen. Gutscheine und Essenspakete und so weiter und so fort. Das heißt, die meisten, die dabei sind, können sich nicht leisten, eine Fahrkarte nach Berlin zu kaufen. Das ist meistens keine große Gruppe, aber wir kriegen das dann hin, dass sich die Orga-Gruppe sozusagen trifft. Und bereiten halt die Konferenz im Dezember immer vor, die ja parallel zur Innenministerkonferenz stattfindet.

von Billerbeck: Deutschlandradio Kultur. Nevroz Duman ist meine Gesprächspartnerin. Sie ist beim Netzwerk "Jugendliche ohne Grenzen" aktiv, kurz "JoG". Stoßen Sie eigentlich mit Ihren Anliegen bei Politikern auf offene Ohren? Sie waren ja nicht nur lokalpolitisch unterwegs, sondern sogar schon im Bundestag. Wissen da Politiker, wie es Flüchtlingen und gerade den jungen hier geht?

Duman: Zum Teil ja, zum Teil nicht. Wir sind ja schon lange dabei, seit 2005, und setzen uns ja für das Bleiberecht ein, dass die Flüchtlinge, die hier in Deutschland sind, ein Bleiberecht bekommen sollen. Und jetzt mit der Bildungskampagne hatten wir auch mehrere Gespräche im Kultusministerium und mit verschiedenen Politikern und Abgeordneten. Beim ersten Gespräch im Kultusministerium hatte ich das Gefühl, dass der Generalsekretär eigentlich nicht so viel darüber Bescheid wusste. Und wir haben halt ihm erklärt, wie die Situation ist von Schülern und Schülerinnen oder von jungen Flüchtlingen, die hier zur Schule gehen wollen. Und er war ein bisschen, wie soll ich sagen, baff, er wusste nicht viel darüber. Und wenn wir mit Abgeordneten sprechen – ja, es gibt welche, die darüber Bescheid wissen, und es gibt auch welche, die darüber nichts wissen. Und die Reaktion ist halt unterschiedlich. Es gibt welche, die sagen, ja, die Jugendlichen, denen sollte man schon die Möglichkeit geben, hier Ausbildung zu machen, zur Schule zu gehen, denn die sind ja so motiviert und könnten was hinkriegen. Und dann gibt es wiederum welche, die sagen, ja, aber wenn wir denen so viele Möglichkeiten geben, was ja für alle anderen eine Selbstverständlichkeit ist, ja, dass man zur Schule gehen darf, dass man Ausbildung machen darf, aber für manche Politiker ist es dann halt so, ja, wenn man so viele Möglichkeiten gibt, dann könnte es ja sein, dass viele andere noch hierher kommen und so was.

von Billerbeck: Nun hat ja die Europäische Union gerade den Friedensnobelpreis bekommen. Was meinen Sie denn, hat sie den auch für ihre Flüchtlingspolitik verdient?

Duman: Nein. Überhaupt nicht. Gar nicht, also ich kann mir das auch nicht erklären, wieso die das bekommen haben. Aber wenn man sich die Lage in Europa anguckt und sieht, dass Europa um sich herum eine Mauer gebaut hat für Flüchtlingsabwehr, ja, dass überall europäische Grenzen sind, dass deshalb so viele Menschen jährlich sterben, die auf der Flucht sind, dass man die Menschenrechte eigentlich überhaupt nicht mehr im Auge hat, Flüchtlingsrechte und Menschenrechte gar nicht mehr beachtet, dann kann ich mir das nicht erklären, warum Europa den Preis bekommen hat.

von Billerbeck: Das sagt Nevroz Duman, 23-jährige Kurdin aus der Türkei mit noch immer befristeter Aufenthaltserlaubnis. Sie hat zusammen mit anderen ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und ist im Netzwerk "Jugendliche ohne Grenzen" aktiv. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Duman: Gern geschehen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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