"Man braucht eine Ethikkommission für den Wert eines Samples"

Hans Nieswandt im Gespräch mit Dieter Kassel · 21.11.2008
Der Bundesgerichtshof hat ein Grundsatzurteil im Streit zwischen der Band Kraftwerk und dem HipHop-Produzenten Moses Pelham über die Verwendung eines Samples getroffen. Nach Meinung des Musikers und Buchautors Hans Nieswandt hat das Urteil jedoch nicht viel Klarheit geschaffen. Er sprach sich für das Samplen als kreative Kunstform aus: "Diese Kreativität sollte unbedingt weiter gewährleistet bleiben".
Dieter Kassel: Auch kleinste Tonfetzen eines Musikstücks sind urheberrechtlich geschützt, hat der Bundesgerichtshof gestern festgestellt. Anlass dafür war die Klage der Gruppe "Kraftwerk" gegen den Musikproduzenten Moses Pelham. Der hatte für einen Song mit Sabrina Setlur eine zweisekündige Sequenz aus einem Kraftwerk-Stück benutzt, ohne zu fragen. Das ist normal, man nennt es Sampling. Aber das Gericht hat nun festgestellt, das so etwas eigentlich verboten ist, dass es aber viele, viele Ausnahmen gibt. Wir reden darüber mit Hans Nieswandt. Er ist Buchautor, DJ, Musikjournalist und hat als Musiker unter anderem mit dem Projekt "Whirlpool Productions" auch schon selber viel gesampelt. Schönen guten Tag, Herr Nieswandt!

Hans Nieswandt: Schönen guten Tag!

Kassel: Ich zitiere mal den Bundesgerichtshof. Der hat festgestellt, dass bereits derjenige in die Rechte des Tonträgerherstellers eingreift, der einem fremden Tonträger kleinste Tonfetzen entnimmt. Die Benutzung solcher Samples ohne Zustimmung des Rechteinhabers kann aber erlaubt sein, wenn daraus ein eigenständiges Werk mit großem Abstand zu ursprünglichen Tonfolge entsteht. Können Sie mit dieser Definition was anfangen?

Nieswandt: Es ist eine Definition, die einen Musiker wie mich, der eben den Sampler auch für ein wirklich tolles Musikinstrument hält, irgendwie ganz schön zum Schmunzeln bringt, weil es im Grunde genommen den Gedanken nahe legt, den ich übrigens schon in den frühen 90ern mal hatte, dass man so eine Art Ethikkommission einberufen muss, die sozusagen den Wert eines Samples, jetzt nicht nur den messbaren Wert, sondern auch den gefühlten Wert richtig einschätzt und dann entsprechend Daumen hoch oder Daumen runter macht.

Man kann ja nun etwas aus dem entlegendst denkbaren Bereich in sein genaues Gegenteil übertragen. Sagen wir mal, wir nehmen einen Volksmusiksample und machen ein Technotrack daraus, dann muss man natürlich sagen, klar, das ist wahnsinnig weit entfernt. Trotzdem bleibt der Reiz und die Referenz usw. natürlich erhalten. So richtig klipp und klar ist es nun wirklich auch nicht.

Kassel: Das merkt man auch bei den ersten Schlagzeilen, die es gegeben hat. Nach dem Urteil haben viele Zeitungen geschrieben, Bundesgerichtshof erlaubt das Samplen grundsätzlich, und ein paar haben auch geschrieben, Bundesgerichtshof verbietet das Samplen.

Nieswandt: Ja, das ist mir auch aufgefallen, dass das sehr widersprüchlich interpretiert wurde.

Kassel: Vielleicht hören wir uns das Corpus Delicti jetzt mal an. Denn das war ja ein Prozess, wo es nicht um allgemeine musikalische Philosophien ging, sondern tatsächlich um ein Stück, das bestand aus einem kurzen Ausschnitt, unter anderem aus einem anderen Stück. Das Stück, wo angeblich geklaut wurde, das Corpus Delicti ist der Song "Nur mir" von Sabrina Setlur. Und der klingt so.
(folgt Musikbeispiel)

Sabrina Setlur, "Nur mir". Da wird natürlich später noch gesungen. Aber entscheidend ist das, was wir jetzt gehört haben, dieser Grundbeat, der geht die ganzen knapp vier Minuten durch und da sagen Kraftwerk, und das bestreitet auch der Produzent dieses Songs nicht, das beruht auf einer Sequenz aus unserem Lied aus dem Jahr 1977 "Metall auf Metall". Das hört sich so an.
(folgt Musikbeispiel)

Hans Nieswandt, ich muss sagen, als Laie, der ich in Musikdingen bin, wenn ich nicht das ganze Drumherum kennen würde, hätte ich nicht gemerkt, dass das eine überhaupt auf dem anderen basiert. Sie haben gesagt, Ethikkommissionen würde man brauchen. Spielen jetzt die Ein-Mann-Ethikkommission. Ist da bei Moses Pelham und Sabrina Setlur was völlig Neues entstanden aus Kraftwerk oder nicht?

Nieswandt: Es ist nichts völlig Neues entstanden, aber es ist auch nicht einfach nur das Alte verwendet worden. Ich denke, dass Moses Pelham, ohne dass ich jetzt größere Sympathien für seine Projekte usw. hege, aber grundsätzlich denke ich, dass man sagen kann, dass er das Sample, den Ausschnitt tatsächlich weitergedreht hat, klanglich. Es hat eindeutig eine andere Stimmung. Der Beat an sich ist derselbe.

Und bloß, weil man den als Laie nicht so leicht erkennt, bedeutet das nicht, dass zum Beispiel Moses Pelham dadurch einen Distinktionsgewinn macht. Ich finde es im Grunde genommen in Ordnung, dass Sampling nicht als in jeder Form einfach sozusagen straffrei erklärt wird, sondern die Tatsache, dass Sampling eine Form von Diebstahl ist, wird ja auch, seit es Sampling gibt, auf Robin-Hood-Weise auch interpretiert gerne.

Es ist sozusagen eine Form von Diebstahl, die sich anders als bei herkömmlichem Diebstahl natürlich die Frage stellt, wo ist das Opfer überhaupt beklaut worden, weil Kraftwerk haben ihr Sample ja immer noch. Ich würde sagen, wie bei jedem anständigen Diebstahl geht es vor allem auch um die Aufteilung der Beute.

Ich war doch sehr überrascht, dass Moses Pelham mit all seinem Wissen in der Musikindustrie und seinem Standing sich da nicht einfach ein bisschen abgesichert hat, auch nicht zuletzt, weil Kraftwerk sind auch nicht unbedingt so sehr dafür bekannt, den Underground zu unterstützen und allgemein kooperativ zu sein, wenn es um den Umgang mit ihren Werken geht.

Kassel: Stichwort Underground, Herr Nieswandt. Da spielt ja vielleicht auch eine Rolle. Es gab Zeiten, da war Sampling ein reines Undergroundphänomen. Das ist es natürlich seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr. Hören wir mal ein Beispiel von einer Frau, über die kann man eine Menge behaupten, dass sie Underground ist, kann man nicht behaupten. Das ist Madonna. Und die hatte vor ungefähr drei Jahren einen großen Hit, der heißt "Hung up", erinnert aber an was ganz anderes.
(folgt Musikbeispiel)

Da hört man Madonna. Der Anfang war entscheidend. Vorhin war das für den Laien sehr schwierig. Ich habe mir gedacht, man muss nicht immer alles schwierig halten. Machen wir es ganz einfach. Das war, muss man dazu sagen, rechtlich nicht strittig, die hat gefragt und hat die Erlaubnis von ABBA bekommen. Hören wir kurz das Original "Gimme Gimme Gimme (A Man After Midnight)", das ist jetzt leicht zu erkennen.
(folgt Musikbeispiel)

Hans Nieswandt, ich will jetzt nicht Madonna verärgern. Aber wenn man diese extreme Ähnlichkeit hört, wie gesagt, rechtlich völlig unstrittig, die hat gefragt, und es ist erlaubt worden. Aber da trifft doch das Vorurteil, dass manche gegen Sampling haben, zu, da ist einem nichts eingefallen, hat er halt was Altes genommen?

Nieswandt: Nö, das ist ein spießiges Vorurteil. Es geht ja hier um Popkultur und um Innovationen der Kompositionskunst usw. Mit ähnlichen Argumenten könnte man zum Beispiel auch Kraftwerk vorwerfen, dass sie überhaupt elektronische Mittel benutzen oder dass sie einen Viervierteltakt benutzen mit Achteln auch drin usw. Auf jeden Fall hat das Sampling genau solche Kunstwerke ermöglicht, in denen offensiv zitiert, collagiert wird usw., wo das Neue genau dadurch entsteht, dass es eben einen starken Anteil, einen starken Referenzanteil an dem Alten hat.

Kassel: Warum hat aber eigentlich das echte Sampling, also wo man nicht eine Idee nimmt und die selber wieder einprogrammiert im Computer und das nachspielt, was ja juristisch und auch in mancherlei anderer Hinsicht nur was anderes ist, warum hat das echte Sampling denn überlebt? In den frühen Achtzigern war das auch technisch der Apparat, der Sampler was ganz Modernes. Aber wirklich das Original aus einem Track auch rauskopieren und dann wieder reinkopieren ins neue Stück, wäre ja technisch heute gar nicht mehr notwendig. Warum wird das überhaupt immer noch gemacht?

Nieswandt: Es hat sicherlich was zum Beispiel damit zu tun, dass die gute alte Zeit der großen Studios, der monatelangen Aufnahmesessions, der Mikrofonierung etc., etc., es ist nicht umsonst so, dass die 60er und die 70er und vielleicht auch noch die 80er Jahre das goldene Zeitalter der Popmusik war und die sich vor allem eben durch diese ganzen Entwicklungen in Aufnahmestudios usw. ausgedrückt hat.

Und deswegen übt es, glaube ich, einen großen Reiz auf Leute von heute, die eben viel samplen aus, dass es eigentlich gar nicht so um die Töne usw. geht, sondern um die Aura, sage ich mal, um das, was man zwischen den Tönen hört, die Energie, von mir aus die Drogen, die damals im Studio genommen wurden in den 60er Jahren.

All das sind Sachen, die man nicht so einfach nachspielen kann. Insofern ist dieses Urteil auch sehr kurios, weil es ja alles zu erlauben scheint, was man nicht einfach nachspielen kann. Und da wird es nun wirklich sehr schwierig zu sagen, wo das anfängt oder aufhört.

Kassel: Wo es angefangen hat, können wir uns vielleicht noch mal anhören. Das werden viele Leute gar nicht wissen, so mit das erste, zumindest das erste bekannte und in Maßen damals erfolgreiche Sample war ein Song, der heute natürlich selbst ein Klassiker ist, "Planet Rock" von Africa Bambaataa. Das ist viel drin, und zwar witzigerweise auch viel von einer gewissen Düsseldorfer Band. Wir hören uns mal kurz dieses Stück an.
(folgt Musikbeispiel)

An dieser Stelle wird es der eine oder andere erkennen. Das, was jetzt gerade zu hören ist bei Africa Bambaataa, ist "Transeuropa Express" von Kraftwerk, eines ihrer bekanntesten Stücke. Sicherheitshalber hören wir uns aber dieses Original auch noch mal in einem Ausschnitt an.
(folgt Musikbeispiel)

Und dann geht es richtig los. Man sollte die Platte kaufen, um sich den Rest anzuhören, zumal ja auch Kraftwerk gerne klagen. Herr Nieswandt, jetzt stell ich mal ne komplexe Frage, die mir in dieser Sekunde einfällt: Das Africa-Bambaataa-Stück "Planet Rock" ist jetzt 27 Jahre alt. Wenn jetzt einer heute hingeht und Africa Bambaataa samplet und da was rausklaut und es ist jetzt aber Kraftwerk mit drin, was ist denn dann?

Nieswandt: Na ja, dann sollte er sich wahrscheinlich nicht von Kraftwerk erwischen lassen. Die Liste von Platten, die bei Kraftwerk gesampelt hat, ist unfassbar groß. Kraftwerk sind neben James Brown wahrscheinlich die meist gesamplete Quelle überhaupt. Zum Beispiel,. was auch eine völlig ungeklärte Frage ist, es wird da immer davon gesprochen, dass Tonfolgen und Melodien verboten sind. Oft genug ist der Witz aber überhaupt gar keine Melodie, sondern eben zum Beispiel ein Beat. Und es ist eine recht lustige Vorstellung, dass deutsche Bundesgerichtshöfe sich mit Beats beschäftigen, aber eigentlich auch eine sehr schöne Vorstellung.

Kassel: Rechnen Sie denn damit, dass aufgrund dieser Grundsatzentscheidung, die gestern gefallen ist, nun in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren massenhaft die Gerichte voll sein werden mit Musikern, die wegen Samples klagen?

Nieswandt: Es wäre eine ziemlich grauenhafte Vorstellung. Ich könnte mir vorstellen, dass es dann plötzlich so eine Juristensorte gibt, die nichts Besseres zu tun hat als zu gucken, wen sie nicht anschwärzen können. Ich denke, dass man auf jeden Fall sagen kann, dass Moses Pelham mit dem Sample kreativ umgegangen ist. Er ist kreativ damit umgegangen und diese Kreativität sollte unbedingt weiter gewährleistet bleiben.

Kassel: Herr Nieswandt, seien Sie vorsichtig, wenn Sie das nächste Mal selber samplen und vielen Dank für das Gespräch!

Nieswandt: Sehr gerne!

Kassel: Hans Nieswandt war das, selber Musiker, DJ, Autor mehrer Bücher, inzwischen auch über das Samplen in der elektronischen Musik. Der Bundesgerichtshof hat dazu gestern ein Urteil gefällt, das eine bis zwei Fragen beantwortet und viele andere offen lässt.