Maler mit gottähnlicher Macht

26.11.2010
Das Buch erzählt die Geschichte des stummen Malers Salvatierra, der großformatige Leinwandrollen bemalte, die sein Leben beschreiben. Nach seinem Tod sehen seine Söhne die Bilder durch und bemerken, dass jenes aus dem Jahr 1961 fehlt. Damit beginnt die Aufarbeitung ihres eigenen Lebens.
Endlich einmal ein Buch aus Argentinien, das sich nicht, wie so viele dieses Jahr, mit den in der Diktatur Verschwundenen beschäftigt. Um Verschwundenes geht es dennoch auch in Pedro Mairals kurzem Roman "Das fehlende Jahr des Juan Salvatierra".

Salvatierra, der nach einem schweren Reitunfall mit neun Jahren stumm blieb, bemalte 60 Jahre lang großformatige Leinwandrollen, die sein Leben erzählen. Nach seinem Tod mit 81 Jahren sehen die Söhne Miguel und Luis die in einem Schuppen lagernden Rollbilder durch und bemerken, dass jenes aus dem Jahre 1961 fehlt. Eine Suche beginnt, die ihr Leben verändern wird.

Diese Zusammenfassung ist nicht falsch, schreibt dem Roman aber eine Dramatik zu, die er erfolgreich unterläuft. Pedro Mairal erzählt in kurzen Szenen und betont nüchtern von zwei Söhnen, die vor dem - trotz oder gerade wegen seiner Stummheit - übermächtigen Vater aus der Provinz in die Hauptstadt Buenos Aires geflohen sind. Das hinterlassene vier Kilometer lange malerische Werk schüchtert sie ein. Salvatierra wollte in ihm die Realität selbst festhalten. Die Szenen gehend fließend auseinander hervor, und beim Betrachten erscheint es, als ob die Zeit erneut verstreicht. Die Bilderrollen stellen nicht dar, sie sind die Wirklichkeit.

Diese gottähnliche Macht des Malers kann, glaubt der Sohn und Erzähler Miguel, nur durch die fehlende Rolle eingeschränkt werden: "Wenn ich die Rolle aber fand, dann gäbe es eine Grenze für diese Welt der Bilder. Das Unendliche hätte einen Rand, und ich könnte etwas finden, das er nicht gemalt hatte. Etwas Eigenes." Die Suche nach der Rolle ist die nach der Identität.

Ein argentinisches Museum ist am monumentalen Werk des stummen Provinzmalers nicht interessiert, jedoch ein holländisches. Es lässt die Rollen mit modernster Technik digitalisieren; in dem schäbigen Schuppen, den der Supermarktbesitzer nebenan dringend erwerben will, um seinen Laden zu vergrößern. Als die Söhne mit dem Verkauf zögern, werden sie von Unbekannten bedroht, und schließlich geht der Schuppen mit allen Rollen in Flammen auf. Glücklicherweise ist die Digitalisierung gerade abgeschlossen und auch die abenteuerliche Suche nach dem fehlenden Rollbild des Jahres 1961 verläuft erfolgreich.

Während der Suche kamen den Söhnen immer wieder Erinnerungen an den rätselhaften Vater in den Sinn. Das wiedergefundene Rollbild jedoch füllt keine Lücken, es bringt neue Ungewissheiten mit sich. Und ein neues Familienmitglied.

Auf elegante Weise geht der 1970 geborene Pedro Mairal mit den gewaltigen Themen seines kurzen Romans um: mit dem Totalitätsanspruch der Kunst und des Malers und der Selbstbehauptung der Söhne. Das väterliche Werk wird gleich doppelt verschoben – ins Virtuelle und ins Ausland. Die digitale Projektion der vier Kilometer Rollbilder im niederländischen Museum bewahrt das Werk des Vaters in verwandelter, durch das mythische Feuer gereinigter Form. Ob die Söhne in Argentinien dadurch Raum zum Leben gewinnen, lässt Mairal offen – wie so vieles. Seine längere Erzählung von grenzenloser Malerkunst ist voller Aussparungen. Das verleiht der Geschichte zuweilen etwas unbefriedigend Vorläufiges, Unfertiges. Es ist aber auch Mairals moderner Kommentar zum Totalitätsanspruch der Kunst und eine ebensolche Aufforderung an den Leser, den Mangel zu ergänzen.

Besprochen von Jörg Plath

Pedro Mairal: Das fehlende Jahr des Juan Salvatierra
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
Carl Hanser Verlag, München/Wien 2010,
140 Seiten, 14,90 Euro