Mainz

Kreative Hilfe für Obdachlose in Corona-Zeiten

07:14 Minuten
Vor einem Schaufenster liegt ein schlafender Obdachloser mit einer dünnen Decke auf Pappschachteln.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe fordert, Obdachlose in der Coronakrise besser zu schützen. © picture alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch
Von Anke Petermann · 31.03.2020
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Wo bleiben die zu Hause, die kein Zuhause haben? Wo sammeln sie Flaschen oder Spenden, wenn die Straßen leer sind? In Mainz haben Helfer gute Ideen und bringen einen kranken Obdachlosen zum Beispiel in einem geschlossenen Hotel unter.
Eine kleine Container-Siedlung auf der Anhöhe überm Mainzer Hauptbahnhof. Wohn-, Sanitär- und Dusch-Container stellt die Stadt alljährlich im Herbst auf, im Frühjahr baut sie das Provisorium wieder ab. Rebecca bewohnt den Frauencontainer und schützt sich hier vor den eisigen Nächten:
"Gott sei Dank bleiben die Container erst mal stehen, denn sonst wären die alle auf der Straße gewesen. Wo sollen die hin? Ich bin froh drum. Es gibt manche, die können nicht mehr richtig laufen, was sollen die auf der Straße?!"
Auf der Straße zu leben, ist zu Corona-Zeiten härter denn je.
"Ja klar, ist noch schlimmer geworden. Denn früher war es so: man konnte freitags zum Beispiel warm essen gehen. Da hat jede Kirche hier in der Stadt warmes Essen verteilt an die Obdachlosen. Und das ist nicht mehr. Das ist zu."

Medizinischer Rat und Lunchpakete

Ein Transporter stoppt am Rande der Containersiedlung. "Arztmobil" steht in großen blauen Lettern drauf. Gerhard Trabert steigt aus, reißt die Schiebetür auf. Damit ist die rollende Ambulanz des Vereins "Armut und Gesundheit" geöffnet. Doch heute bietet der Vereinschef und Arzt nicht nur Behandlung an. Trabert greift nach den braunen Papiertüten, die er mitgebracht hat: "Ich hab’ Lunchpakete dabei – wer was zu essen will."
Der Arzt muss nicht zweimal fragen. Männer kommen aus ihren Vierer-Containern und nehmen die Tüten dankend an. Trabert holt Nachschub aus dem Auto und freut sich über die gelungene Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Pfarrer-Landvogt-Hilfe: "Das ist wirklich ganz toll! Ich hab’ ihnen gesagt, wir bräuchten so und so viele Lunch-Pakete, die hole ich dann auch ab."
In der Teestube des Hilfsvereins, eine der wenigen noch offenen Anlaufstellen für Wohnungslose, hat man die Essenspakete zusammengestellt. "Mit Obst, geschmierten Broten, mit Orangensaft, also Lebensmitteln, die einen Nährwert haben." Nachdem sich der Arzt um Rebeccas Mittelohr-Entzündung gekümmert hat, bittet er Peter, nennen wir ihn so, in das mobile Sprechzimmer: "Wenn Sie wollen, können Sie sich schon hinten reinsetzen!"
Der Professor für Sozialmedizin will den gehbehinderten Wohnungslosen in eine neue Unterkunft fahren. Sechs Jahre auf der Straße haben Peter gezeichnet. Er gehört zur Hochrisikogruppe, meint Trabert – zu denen, "die sehr gefährdet sind, weil sie chronische Krankheiten haben, weil sie immungeschwächt sind, weil sie zusammengepfercht in so einem Container leben".
Peter selbst hält Knieprothese und Gehbehinderung für seine Hauptprobleme. Ins Hotel geht er, weil er die enge Männer-WG im Kranken-Container satt hat. Für einen Einzelgänger wie ihn unerträglich. Gefahr durch Corona? "Schwachsinn", wehrt Peter ab. Sein Arzt weiß es besser. Gerhard Trabert kennt die Verdrängungsmechanismen. "Corona – kein Problem", pflegen seine Klienten zu sagen. Dem Sozialmediziner ist es noch nicht gelungen, ihnen klarzumachen, wie bedroht sie sind.

Ministerium hat schnell reagiert

Bei der SPD-geführten Ampel-Regierung von Malu Dreyer hatte er da mehr Erfolg: "Wir haben das Land Rheinland-Pfalz aufgerufen, dass man uns Übernachtungsmöglichkeiten in Pensionen, Jugendherbergen und Hotels zur Verfügung stellt. Das Ministerium für Soziales und Gesundheit hat sehr schnell reagiert, und wir haben jetzt vier Plätze in einem Hotel, dem Inndependence-Hotel." Das Mainzer Hotel ist ein Inklusionsbetrieb, in dem behinderte und nicht-behinderte Menschen arbeiten. Es gehört zu einer gemeinnützigen GmbH, der GPE, Gesellschaft für psychosoziale Einrichtungen. Und es ist bis mindestens zum 20. April noch Corona-bedingt geschlossen, wie andere Hotels auch. Vier Plätze für Wohnungslose – ausbaufähig, findet Gerhard Trabert, schließt die Schiebetür des Arztmobils und lässt den Transporter an. Der ist so geräumig, dass man drinnen den Corona-Sicherheitsabstand von 1,50 Meter einhalten kann.
Klaus Perlich (78), Wohnungslos, sitzt in dem Hotel auf seinem Zimmer. Auf Initiative des Landes und in Zusammenarbeit mit einem Mainzer Allgemein- und Notfallmediziner werden ab sofort mehrere Wohnungslose in dem Hotel "Inndependence" untergebracht. Das Hotel darf aufgrund der Coronakrise derzeit nicht belegt werden.
Obdachlose in Mainz werden in einem Hotel untergebracht© picture alliance / dpa / Andreas Arnold
Vor dem Hotel nimmt Nele Kleinehanding Peter in Empfang. "Und wir haben ein Zimmer – Nummer 24. Und es gibt noch Regeln, die würde ich im Zimmer mit Ihnen durchgehen, die man unterschreiben muss – einverstanden?", fragt die Sozialarbeiterin des Vereins "Armut und Gesundheit". Peter nickt und scheint, im Zimmer angekommen, etwas überfordert von der ungewohnten Umgebung. Kleinehanding: "Gefällt Ihnen das Zimmer?" Peter: "Ja!"

Neues Leben im geschlossenen Hotel

22 Uhr ist Nachtruhe, 23 Uhr wird abgeschlossen, bis dahin müssen die neuen Bewohner da sein, und zwar ohne Kumpels im Schlepptau. Ob sich Peter auf Dauer damit abfindet – noch ungewiss. Je mehr flankierende Sozialarbeit das Land oder die Stadt finanzieren, glaubt Gerhard Trabert, desto bessere Erfolgsaussichten hat das Experiment.
Susanne Schneider von der gemeinnützigen GPE freut sich jedenfalls über neues Leben im geschlossenen Hotel: "Es ist ja auch eine Win-win-Situation – wenn das Haus jetzt voll wäre, könnten auch unsere Mitarbeitenden wieder hier arbeiten, aus der Kurzarbeit kommen, die ja auch zum Teil beeinträchtigt sind. Das wäre eine tolle Sache." – Das heißt, Sie fürchten keinen Imageverlust? – "Nein, wir sind ein Sozialunternehmen, und das passt."
Mainz könnte vormachen, wie man die Anfälligsten unter den Wohnungslosen wirkungsvoll vor einer Corona-Infektion schützt. Das hörte Trabert jedenfalls beim Gespräch mit dem Sozialministerium von Rheinland-Pfalz raus: "Da wurde mir signalisiert, wenn das Konzept hier funktioniert, dass das Land dann überlegt, das in Rheinland-Pfalz landesweit umzusetzen. Das finde ich eine sehr gute Idee."
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