Magier, Monster und Mutanten

Von Dorothea Massmann · 09.10.2007
Javier Calvo gehört zu einer neuen Generation katalanischer Autoren, die sich um den literarischen Kanon wenig scheren. Proust, Iron Maiden, Comics, Gebrauchsanleitungen, Fernsehserien oder Computerspiele gehören gleichermaßen zu ihren Inspirationsquellen. In diesem Sinne verstehen sie sich als neue "Realisten”.
"Am liebsten höre ich Musik, die eigentlich gar keine mehr ist: je extremer je besser ... wenn man nur noch Schreie wahrnimmt und unerträglichen Krach!”"

Das meint er tatsächlich ernst. Ein paar Handgriffe, und seine Lieblingsmusik ertönt aus dem Computer. Eine Stereoanlage brauche er nicht, wozu denn, die Lautsprecher am PC lassen sich doch auch voll aufdrehen.

Als "intensive Bewusstseinserfahrung” interessiere ihn die Musik, als pure und ursprüngliche Energie, erklärt er und schiebt seine Schirmmütze zurecht. Javier Calvo, Jahrgang 1973, wird gern als neuer Stern am Himmel der spanischen "Punkliteratur” gefeiert. Dabei hört er viel lieber Metal oder Gotik Rock.

""Die Musik verbreitet eine seltsame und brutale Stimmung, die mich beim Schreiben inspiriert und mir hilft, die passende Atmosphäre für meine Geschichten zu finden...Ich arbeite immer bei dem Lärm, das entspannt mich außerdem."

Tatsächlich wirkt er relaxt. Im Gegensatz zu den Figuren, die durch seine schrillen Abenteuergeschichten geistern: Godzilla-Monster, Mutanten oder Mary Poppins, sex-und alkoholbesessene Freaks der Londoner Subkultur, Magiere oder unheimliche Mörder aus dem viktorianischen England.

Lauter schräge und finstere Gestalten eben, die - auf bis zu 600 Seiten - ein schwindelerregendes Pensum an Abenteuer, Action und mitunter auch Hardcore-Porno hinter sich bringen. Dazu gesellen sich mysteriöse Legenden des Metal und Gotik Rock, Undergroundgruppen wie Throbbing Gristle oder Coil. Manche Titel versetzen ihn in Angst und Schrecken, sagt er, aber gleichzeitig auch in einen Zustand "narkotischer Ruhe". Das brauche er. Zum Schreiben. .

""Ich selbst bin gar kein Metal Head und führe auch kein extremes Leben, ich bin ein ganz normaler Mensch, ok?”"

Stimmt. Javier Calvo - Jeans, schwarzes T-Shirt, jungenhaftes Gesicht - lebt in Barcelona in einer schlicht eingerichteten Altbauwohnung: mit Frau und Kind. Seine Tochter Judith ist gerade ein paar Monate alt.

""Früher sind wir nachts losgezogen, haben ordentlich getrunken und oft durchgemacht. Das passiert immer seltener - ich bin ja jetzt Vater, weißt du.”"

Klar. Die ganz normale Familienkiste. Dafür sieht er jetzt mehr fern. Soap Operas, BBC-Serien, Comics, Mangafilme, Science Fiction.

Damit verliere - oder gewinne - er täglich ein bis zwei Stunden. Mindestens, grinst der 34-Jährige lakonisch. Dann braucht er erstmal einen Tee.

Den schriftstellerischen Durchbruch brachte 2003 ”Der spiegelnde Gott”: sein abgedrehter Roman um einen japanischen Science-Fiction-Regisseur, die Aufweichung des menschlichen Gehirns durch Elektrosmog und andere apokalyptische Zukunftsvisionen. Calvo erzählt respektlos und schnell, mit schnittartigen Sprüngen wie im Film: Das Buch wurde als "Zäsur des spanischen Romans" gefeiert, und Calvo als Pionier der postmodernen Prosa.

Woraufhin er umgehend entschied, die nächsten Bücher völlig anders zu schreiben: "retro" nämlich, der "Geist von Charles Dickens” habe sich ihm offenbart, feixt er. Seither herrscht in seinen Geschichten die düstere Atmosphäre viktorianischer Zeiten. Auch noch andere unheimliche Elemente tauchen jetzt häufiger in seinen Büchern auf.

""Wie soll ich dir das erklären, ohne dass es lächerlich klingt. Sagen wir: vor allem in den letzten zwei Jahren habe ich begonnen, über Magie und okkulte Philosophie zu schreiben.”"

Natürlich glaubt er nicht an Geister oder Gespenster, ihn interessiere die Magie als Ritual, als philosophische Lehre. Calvo schlürft seinen Tee. Na ja, außerdem lese er die Lieblingsautoren seiner Jugend immer noch mit derselben Begeisterung wie damals: Stevenson, Conan Doyle oder eben Dickens.

""In meinen Büchern lässt sich ein gewisser Zusammenhang nicht leugnen zwischen meinem Geschmack als Jugendlicher und heute: okkulte Lehren, gotische Romane, Gothic oder Industrial Rock, Phantasy, wohl auch ein paar infantile oder pubertäre Verhaltensweisen - viele meiner Bezüge stammen aus dieser Zeit.”"

Javier Calvo wird unterbrochen: die Tochter schreit nebenan. Seine Frau müsse arbeiten, er sich um sein Kind kümmern, außerdem gehe er Punkt halb eins ins Fitness-Studio. Also sorry, und ob wir zum Ende kommen könnten, wo waren wir doch stehen geblieben. Ach ja, die Fixierung auf seine pubertäre Phase.

""Aber ich sage das sogar mit gewissem Stolz, weißt du, ich habe verschiedene Phasen durchlaufen und bin regrediert.”"

Die ersten Erzählungen veröffentlichte Calvo 2001 als 28-Jähriger. Vorher war er erfolgreich als Übersetzer von Autoren wie Ezra Pound, Ted Hughes oder Foster Wallace. Ein abgebrochenes Kunststudium hatte er da schon hinter sich und verschiedene Jobs - als Journalist, Lektor, Literaturkritiker, Herausgeber, Drehbuchautor.

""Das Schreiben betrachte ich nicht als Berufung, meine Zukunft hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Aber inzwischen sehe ich immer klarer, dass ich später wohl wirklich mal Schriftsteller werde.”"