Magie von Geschichten

Die Coronazeit auf der Couch hat sich gelohnt

04:21 Minuten
Ein Mädchen schaut in einen Fernseher (Illustration)
Geschichten, ob nun als Serie, Film, Buch oder Podcast, können unser Leben bereichern, betont die Journalistin Charlotte Theile. © imago images / fStop Images / Malte Mueller
Gedanken von Charlotte Theile · 31.12.2020
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Körperlich ist die coronabedingte Couch-Potato-Existenz ungesund. Für den Geist aber hat sich das Universum der Geschichten 2020 eminent erweitert, meint Charlotte Theile: beim Binge-Watching, Podcast-Hören und Lesen.
Was ist eine gute Geschichte? Die Antwort auf diese Frage ist zurzeit nicht selten viele Millionen Dollar wert. Corona hat uns zu Zuhörern und Zuschauerinnen gemacht, unsere Fantasie neue oder schon lange nicht mehr betretene Pfade entlang geschickt. Für Podcaster, Streamingdienste und einige Verlage hat sich das ausgezahlt.
Viele andere hat das vergangene Jahr daran erinnert, wie wichtig es für uns Menschen ist, die Realität gelegentlich einmal verlassen zu können. Daran, dass wir gute Geschichten brauchen – nicht nur, wenn der Lockdown uns davon abhält, draußen eigene zu erleben. Wir brauchen die Erzählungen von anderen, um zu verstehen, was um uns herum geschieht. Wir brauchen sie, um uns eine Meinung zu bilden.
Wer in der Lage ist, eine Geschichte zu erzählen, der schafft es auch, Menschen auf seine Seite zu ziehen. Er kann teure Produkte verkaufen, Politikern zur Wiederwahl verhelfen oder einige Millionen Menschen davon überzeugen, dass der Corona-Impfstoff nur entwickelt wurde, um Besitz von unseren Gehirnen zu ergreifen.

Nur bessere, wahre Geschichten helfen

In der Werbung oder im Journalismus ist Storytelling in den letzten Jahren zum Modebegriff geworden. Trotzdem ist den meisten erst jetzt so richtig klar geworden, welche Macht Geschichten entfalten können. Wenn zum Beispiel Netflix-Regisseure den Fall Dominique Strauss-Kahn in seiner ganzen Schrecklichkeit nacherzählen und es dabei zum ersten Mal schaffen, die Frauen, die ihn anklagen, als fehlbare, verletzte und sehr nachvollziehbare Personen zu zeigen.

Juristen und Wissenschaftlerinnen dagegen haben in dieser Krise gespürt, wie schwer es ist, gegen etwas anzutreten, das sich aufregend oder plausibel anhört. Denn eine packende Geschichte wird, ganz automatisch, ausgeschmückt, weiterentwickelt und – natürlich – weitererzählt. Im Netz kann das so schnell gehen, dass binnen weniger Stunden Karrieren zerstört werden – oder per Crowdfunding eine gigantische Summe für einen guten Zweck zusammenkommt.
Geschichten mit Fakten bekämpfen? Das bringt in etwa so viel wie das berühmte Messer bei einer Schießerei. Wer überzeugen will, muss selbst erzählen können. Er muss nicht nur gute Geschichten anbieten, sondern – auch das ist ein Trend dieses Jahres – er muss wahre Geschichten erzählen. Geschichten, die Ambivalenz und Widerspruch zulassen. Geschichten, die es möglich machen, Neues zu erleben, die Perspektive zu wechseln.

Unsere Wahrnehmung wurde erweitert

Bücher, die von "unsichtbaren Frauen" und von Femiziden erzählten, wurden in den vergangenen Monaten zu Bestsellern. Hunderttausende fieberten bei "Love on the Spectrum" mit, wie junge Menschen mit unterschiedlichen Ausprägungen von Asperger und Autismus nach einem Partner oder einer Partnerin suchten. Es gibt ein breites Interesse an diesen, neuen Erzählungen. An Stimmen, die bisher zu wenig gehört wurden. Und an den Fragen, die scheinbar nur Minderheiten beschäftigen – Rollstuhlfahrerinnen, Einwanderer, Überlebende.
In diesem Jahr haben wir verstanden, dass die wichtigsten und schönsten Geschichten dort zu finden sind, wo wir gerade noch weggeschaut haben. Niemand hat so unmittelbar und bewegend von Ungerechtigkeit und Schmerz erzählt, wie die Black-Lives-Matter-Bewegung. Und nie hat es sich sinnvoller angefühlt, zuzuhören. "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten" von Alice Hasters war 2020 ein beliebtes Weihnachtsgeschenk.
Wir haben in diesem Jahr also nicht nur True-Crime-Dokumentationen, opulent erzählte Miniserien und eine halbe Million Podcasts bekommen – wir haben es geschafft, unsere Erzählungen ein Stück weit zu bereichern. Mit anderen Worten: Wir haben Geschichten dazugewonnen, die die Kraft haben, etwas zu verändern. Uns zu verändern.
Wenn es gelingt, das beizubehalten, weiter zuzuhören und neugierig auf die Welt der anderen zu bleiben, dann haben sich die Monate auf der Couch gelohnt. Vielleicht sogar mehr, als wir uns das jetzt vorstellen können.

Charlotte Theile, geboren 1987 in Sachsen, ist freie Journalistin und Autorin. Sie schreibt über Verbrechen, Politik, Feminismus und Gesellschaftsthemen. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit Storytelling und unterrichtet angehende Journalistinnen, Studenten und Schülerinnen. Sie moderiert den Podcast Breakup, in dem Menschen von ihren Trennungen erzählen.

© Urs Jaudas
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