Maggie Nelson: "Die roten Stellen"

Ein Mord, ein Prozess und die psychischen Folgen

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Das Bild zeigt das Cover des neuen Buchs von Maggie Nelson. Es heißt "Die roten Stellen".
Das neue Buch von Maggie Nelson: Intim, schonungslos und oft erschreckend brutal. © Hanser Verlag / Deutschlandradio
Von Sarah Elsing · 29.01.2020
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Maggie Nelson schreibt über die brutale Ermordung ihrer Tante und den Prozess 35 Jahre später. "Die roten Stellen" ist Essay, Memoir und akademische Zitatesammlung zugleich - eine literarische Erkundung eines weiteren Kreises der Hölle.
In der Hoffnung; dieses Kapitel endlich abschließen zu können, hatte Maggie Nelson an ihrem 32. Geburtstag den Gedichtband über ihre Tante Jane veröffentlicht. Jene 24-jährige Jurastudentin, die Ende der Sechziger Jahre brutal ermordet worden war. Da ruft ein Detective an: "Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass sich dieser Fall rasch auf einen erfolgreichen Abschluss zubewegt."
35 Jahre nach Janes Tod. So verstörend formell wie die Information des Ermittlers entwickelt sich auch der Prozess, der alles "verarbeitet" Geglaubte wieder aufreißt: Trauer, Angst, Schrecken, der grausam zugerichtete Körper der Tante auf Großbildleinwand, Aussagen gealterter Cops und kluger DNA-Expertinnen, die zerbrechliche Frau des Angeklagten: Court TV, das jedes Wimpernzucken der Angehörigen live ins Internet überträgt.

Rote Stellen als Spuren des Todes

Maggie Nelson, US-amerikanische Schriftstellerin, Professorin und Kunstkritikerin reagiert auf diesen Wahnsinn, indem sie darüber schreibt. Wie Nelsons andere Bücher ist "Die roten Stellen" eine Mischung aus Essay, Memoir und akademischer Zitatesammlung.
Ein Hochseilakt zwischen fact und feelings. Sie dokumentiert die turbulente, rohe, gehetzte Stimmung, in der sie sich während des Prozesses befand. In radikaler Offenheit seziert sie alle Bewegungen ihres Denkens und Fühlens. Auch ihr "Mordgemüt", diese blutrünstige Schwingung von Herz und Verstand, die ihre Realität und Träume bestimmt.
Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend blitzen auf. Der plötzliche Tod des Vaters, die Ausreißer-Schwester, die Junkieleichen auf den Klos der New Yorker Bars, in denen sich die Literaturstudentin ihre eigenen Trips verdient. Der Ex, der sie beim Sex mit einem Seidenstrumpf würgt. "So ist Jane gestorben. – Ich weiß!" Das ist sehr intim und schonungslos. Oft erschreckend brutal. Besonders wenn das "Mordgemüt" auf dem Nachhauseweg an einsamen Bahngleisen mitunter in ein "Selbstmordgemüt" umschlägt.

Vom "Mordgemüt" zum "Selbstmordgemüt"

Nelsons Reflex, sich und ihr Material in ein ästhetisches Objekt zu verwandeln, entsprang auch ihr gefeierter Bestseller "Die Argonaten", ein Roman über Nelsons queere Kleinfamilie, die Geschlechtsangleichung ihres Mannes und ihr eigenes Mutterwerden. Auch das Memoir "Bluets" über die Trennung von einem Mann, der das Blau liebte, folgte diesem Muster.
Nun hat Hanser Berlin die erstmals 2007 erschienenen "Roten Stellen" ebenfalls übersetzen lassen. Die deutschsprachigen Leserinnen und Leser können dankbar sein. Denn was für ein dunkel schillerndes Kunstwerk bekommen sie hier zu lesen?
Aber taugt dieses Schreiben über Janes Ermordung auch als eine Art Exorzismus? "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben", zitiert Nelson Joan Didion, die amerikanische Queen des zeitdiagnostischen Memoirs der Sechziger Jahre. Aber Nelson, die postmoderne Joan Didion, glaubt nicht mehr an die Magie der Geschichten.
Nelson schreibt, sie sei Dichterin geworden, weil sie keine Geschichten habe erzählen wollen. Anders als Virginia Woolf, die ihre Erfahrung in Worte fasste, um sie real und zu etwas Ganzem zu machen, will Nelson eine Sprache finden, in der alles verschwinden könnte.
"Die roten Stellen" ist die literarische Erkundung eines weiteren Kreises der Hölle, die unser tägliches Leben sein kann. Nelsons Drahtseilakt über dem Abgrund ist schonungslos.

Maggie Nelson: Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses
Aus dem Englischen von Jan Wilm
Hanser Verlag, Berlin 2020
224 Seiten, 23 Euro

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