Magersucht

Genuss neu lernen

Von Nathalie Nad-Abonji · 24.03.2014
Es ist ein Teufelskreis aus Hungern, Essen und Erbrechen: Laut Studien könnte ein Fünftel aller jungen Menschen unter Essstörungen leiden. Besonders Mädchen sind betroffen. In einer Wohngemeinschaft in Rostock wird ihnen geholfen.
Das Mittagessen lässt die 16-jährige Clara heute ausfallen. Stattdessen hat sie sich mit einem Stapel handschriftlich beschriebener Blätter in den Bastelraum zurückgezogen.
"Bla, bla, bla. Mmmmhhhh. Ich suche jetzt, wo das mit Essstörungen ein bisschen durchkommt."
Auf einem der Blätter steht:
"Kotzende Gleichgültigkeit
Dem Abgrund so nahe
Zum Sprung bereit
Hunger und Finger im Hals
Fressen und Kotzen
Fressen und Kotzen
Bis nichts mehr von mir übrig bleibt."
Clara leidet an Bulimie - also Ess-Brechsucht. Das bedeutet, sie hungert phasenweise, um dann Unmengen an Nahrungsmitteln wahllos in sich hineinzustopfen, die sie gleich darauf wieder erbricht.
"Selbst wenn ich dann Frühstück esse muss ich mir ja genau überlegen, was ich esse und was das für Folgen hat. Ich denke schon ganz viel darüber nach, was ich esse, wann ich esse, wie ich esse, ob ich esse. Also im Kopf, glaube ich, dreht es sich ganz, ganz viel darum. Wenn ich in der Straßenbahn sitze, muss ich ganz viel darüber nachdenken, was jetzt die Leute von mir denken und dass die mich komisch angucken und dass die mich hässlich und dick finden."
Clara hat langes, blondes Haar. Auf der rechten Seite ist es abrasiert. In der vollen - rot bemalten - Unterlippe steckt ein Silberring. Die Augen umrandet Clara dick mit einem schwarzen Kajal. Sie ist hübsch. Aber sie ist viel zu dünn. Das sagen auch ihre Freundinnen.
"Das geht da rein und hier raus. Ich höre es und weiß, dass es ernst gemeint ist aber - sehe ich nicht, ist nicht so, ich bin dick. Ich bin einfach nicht dünn."
"Ich bin einfach nicht dünn."
Zehn Minuten später. Inzwischen sitzen drei weitere Mädchen und die Kunsttherapeutin Isabell Drexel mit am großen Tisch.
"Okay, Mädels, legen wir los. Wie ist die Stimmung, wie war die letzte Woche? Was sind eure Themen, die ihr mitgebracht habt? Ihr kennt das. Wer will loslegen?"
Clara entscheidet sich dafür, an der Staffelei zu malen. Ranja nimmt einen Tonklumpen in die Hand und Sandra spielt mit Isabell Drexel das "Schnörkelspiel".
Die Küche der Rostocker WG für essgestörte Jugendliche
Blick in die Rostocker WG für essgestörte Jugendliche© Deutschlandradio - Nathalie Nad-Abonji
Drexel: "Das geht so, dass man ein ganz normales Skizzenpapier nimmt, muss nichts dolles sein. Und jeder kriegt einen Stift. Du malst einen Schnörkel und ich gucke dann was ich daraus mache. Irgendetwas was mir einfällt, was ich darin sehe. Dann male ich einen Schnörkel und du schaust, was du daraus machst. Ganz simpel, es muss überhaupt kein künstlerischer Anspruch sein. Es geht nur ums Spielen sozusagen. Wollen wir das mal ausprobieren? - Ein Herz! Jetzt darfst du einen Schnörkel machen."
Die 16-jährige Sandra* (Name geändert) nimmt einen grünen Stift und kritzelt einen Schnörkel. Was so spielerisch daher kommt, ist bei Psychologen eine anerkannte Methode, um mit Jugendlichen Patienten in Kontakt zu treten. Auch Sandra hat Bulimie. Eine dreijährige Odyssee von Klinik zu Klinik liegt hinter ihr:
"Womit es eigentlich angefangen hat, das war so eine Zwangsstörung. Dass ich alles wiederholt habe, was ich gemacht habe. Dass ich dann letztendlich - wenn man sich mal vorstellt, was man alles an einem Tag macht und das dann alles wiederholen mit irgendwelchen Zwangsgedanken. Das ist so - ich lag dann morgens im Bett und schon nach dem Aufstehen hätte ich mich wieder schlafen legen können, weil es so anstrengend war."
Vitaminmangel, verlangsamter Herzschlag, Zahnprobleme
Nie hat jemand dem Mädchen gesagt, es sei pummelig oder dick. Trotzdem: Die Essstörung ist irgendwann da. Und die körperlichen Folgen auch: Vitaminmangel, ein verlangsamter Herzschlag, Zahnprobleme und hormonelle Störungen.
Nun scheint es für Sandra aufwärts zu gehen. Sie ist groß und sieht immer noch sehr schmal aus. Aber seit Sandra in der Wohngemeinschaft lebt, hat sie rund sechs Kilo zugenommen und eine etwas weiblichere Figur bekommen.
"Es gibt natürlich auch immer wieder so Phasen, wo es dann schlimmer wird. Wo man dann öfter mal spucken geht. Aber das ist für mich so eine Zeitverschwendung, weil ich weiß, das wird dann schlimmer, wenn man sich so darauf einlässt."
Während die Mädchen malen und kneten, decken zwei Betreuerinnen den Tisch für das Abendessen. Sie bringen Wurst, Käse, gekochte Eier, rohes Gemüse und selbstgebackene Pizza vom Vortag aus der Küche.
"Guten Appetit!"
Clara stochert in einem weichen Ei herum. Andere Mädchen greifen nur in die Schüssel mit dem rohen Gemüse. Sandra isst immerhin ein Stück Pizza. Die Betreuer dokumentieren schriftlich, was die Mädchen zu sich nehmen. Aber niemand wird zum Essen gezwungen.
Die Hälfte aller Bulimiekranken wird gesund
Etwas später machen Sandra und Clara es sich auf der großen Couch im Wohnzimmer gemütlich. Nach etwas über einem Jahr betreutem Wohnen und Essen ziehen sie Bilanz.
Clara: "Ich möchte schon an den Punkt kommen, wo ich normal essen kann, wo das kein Problem mehr für mich ist. Aber ich merke ja auch, dass ich momentan immer noch den Wunsch habe, abzunehmen und dann auch öfter sage: Nö, jetzt nehme ich ab. Es ist halt noch nicht so stark da, dass ich wirklich daran kämpfe. So ein Kampf ist es noch nicht, glaube ich. Wäre glaube ich eine Lüge, wenn ich das sagen würde."
Sandra ist da schon einen Schritt weiter:
"Es ist nicht so, dass ich von jetzt auf gleich eine andere Sichtweise hatte. Aber es kam dann so nach und nach. Ich habe dann gemerkt, dass es mir in der WG eigentlich total gut gefällt. Dass sie mir helfen wollen und dass sie das teilweise auch total gut schaffen. Dass ich auch mit den Betreuern - dass wenn ich zu Hause bin, dass sie mir dann auch schon fehlen. Da habe ich so gemerkt, ich würde gerne in der WG bleiben. Dann kam das auch dazu, dass ich das mit der Schule, mit dem Abschluss gerne nutzen würde, die Chance. Kam also so nach und nach. Hat ja auch gedauert."
Statistiken belegen: Die Hälfte aller Bulimiekranken wird gesund. Bis Clara und Sandra es geschafft haben, die Essstörung zu überwinden, wollen sie auf jeden Fall in der Wohngemeinschaft bleiben.
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