Märchen mit Innovationskraft

14.07.2010
Johan de Mylius geht es in "Der Preis der Verwandlung" um den ästhetischen Zuschnitt der Märchen, um ihre stilistische Vielfalt, ihren Bilderreichtum sowie ihre sprachliche Innovationskraft. Und er zeigt, welche Rolle der Dichter Hans Christian Andersen dabei spielte.
Obwohl er als bedeutender Romancier galt, als schon zu Lebzeiten erfolgreicher Theaterautor, Lyriker und Reiseschriftsteller, reicht nichts an die Popularität heran, die Hans Christian Andersen weltweit mit seinen Märchen gewann. Umso erstaunlicher, dass dieses Genre innerhalb des Werks des dänischen Autors, sein Markenzeichen, noch nicht angemessen gewürdigt wurde. Denn über eine biografisch-psychologische Deutung kam die Forschung bisher nicht hinaus.
Johan de Mylius, Professor für dänische Literatur und Leiter des Andersen-Zentrums in Odense, verfolgt mit seiner Monografie einen ganz anderen Ansatz. Ihm geht es um den ästhetischen Zuschnitt der Märchen, um ihre stilistische Vielfalt, ihren Bilderreichtum sowie ihre sprachliche Innovationskraft, kurzum er spürt in den scheinbar simplen Kindergeschichten ein hochexplosives Gemisch aus formalen und motivgeschichtlichen Experimenten auf, die den Autor Andersen endgültig zu einem Wegbereiter der Moderne promovieren.

Dabei verfährt de Mylius streng textanalytisch entlang des Schlüsselbegriffs von Andersens literarischen Erfindungen, der Verwandlung in all ihren Spielarten, die da heißen Flucht, Erlösung, Suche nach Identität, Sterben und Tod. Das Leben bei Andersen, so seine These, ist voller Zufälligkeiten, niemand kann sich sicher fühlen, Tod und Vernichtung lauern an der nächsten Ecke. Das geht so von den "Wilden Schwänen" bis zur "Geschichte aus den Dünen", von der "Kleinen Meerfrau" bis zum "Reisekamerad", von den Klassikern unter den Märchen zu den weniger bekannten.

In fünf Kapiteln vergleicht er Andersens frühe und späte Märchendichtung und stellt fest, dass hier alles andere als ein einheitlicher traditioneller Erzählstil herrscht. Bei seiner Lektüre entdeckt er ein poetologisches Laboratorium, in dem in munterster Weise zeithistorische Bezüge mit visuellen und musikalischen Momenten gemischt werden, die das Zeitalter der Romantik, dem sie ursprünglich entstammen, weit hinter sich lassen.

De Mylius’ Andersen-Exegese ist ein akkurat philologisches Werk, nur manchmal verlässt er den Pfad der hohen Wissenschaft und erlaubt sich schnoddrige Ausreißer, beim hässlichen Entlein etwa, das wegen seiner Andersartigkeit "gemobbt" wird - angenehme Einsprengsel, die auch dem Übersetzer Peter Urban-Halle zu verdanken sind. Nur ein Register, das das Auffinden der Titel der Märchen erleichtern würde, vermisst man schmerzlich. Obwohl sich der Literaturwissenschaftler de Mylius in erster Linie an die Fachwelt wendet, so ist das Buch auch ein Gewinn für alle Andersenliebhaber, bekommt man doch Lust, die Märchen wieder oder ganz neu zu lesen.

De Mylius räumt auf mit dem Klischee vom behäbigen Märchenonkel aus Dänemark: Eigentlich sei Andersen ja gar kein Geschichtenerzähler im herkömmlichen Sinne. In seinem Universum gibt es kein Happy-End. Somit unterscheiden sich seine Märchen ganz klar von der Art gut gemeinter Kinderbücher, die unter dem Dach der Wohlfahrtsgesellschaft ihre kleinen Leser vor radikalen Einsichten meinen schützen zu müssen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Johan de Mylius: Der Preis der Verwandlung. Hans Christian Andersen und seine Märchen
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle, Königshausen & Neumann-Verlag, Würzburg 2010, 327 Seiten, 29,80 Euro