Männerwissen in Wikipedia

Warum die Online-Enzyklopädie weiblicher werden muss

07:21 Minuten
Eine Frau steht vor einer Wand und betrachtet das darauf angebrachte Logo der Wikipedia.
Etwa 90 Prozent der Einträge in Wikipedia sind von Männern verfasst. Etwas mehr weibliche Perspektive täte der Online-Enyklopädie gut, sagt Autorin Grizma. © AFP / John MacDougall
Grizma im Gespräch mit Ute Welty · 02.10.2021
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Nur etwa zehn Prozent der deutschen Wikipedia-Artikel stammen von Frauen. Autorin Grizma fände es gut, wenn dieser Anteil erhöht würde - damit weibliche Perspektiven und Erfahrungsräume stärker einfließen.
Seit 20 Jahren ist Wikipedia das Nachschlagewerk schlechthin. Gut 2,6 Millionen Einträge hat die deutsche Ausgabe. Doch nur rund zehn Prozent davon sind von Frauen verfasst worden. Grizma ist eine von ihnen und schreibt seit 2008 für die Enzyklopädie. Sie möchte gerne anonym bleiben, denn: Stalking als Reaktion auf ihre Einträge sei zwar keineswegs die Regel, aber könne durchaus vorkommen, vor allem, wenn Leserinnen und Leser einen anderen Blick auf das im Eintrag behandelte Thema oder die dort beschriebene Person haben.
Welche Folgen es hat, dass nur so wenige Schreiberinnen bei Wikipedia unterwegs sind, lasse sich gut am Beispiel des Eintrags zur Stumpfhose zeigen, sagt Grizma – darüber sei bei einem aktuellen Treffen von Wikipedia-Autorinnen und -Autoren lebhaft diskutiert worden.
Im Eintrag heißt es: "Die Strumpfhose ist ein einteiliges Beinbekleidungsstück, das den Körper hauteng von der Taille abwärts komplett bedeckt." Dazu eine Bebilderung, die (auch) den Frauenkörper zeigt.

Unbehagen bei Nutzerinnen

"Das weckt gewisse Begehrlichkeiten. Und manche Menschen möchten den Körper auf eine Weise darstellen, wie Frauen das oft nicht so gerne sehen. Und wenn Frauen als Autorinnen in der Minderheit sind, kann es sein, dass dort eben auch Abbildungen oder Beschreibungen zu finden sind, die uns nicht so gut gefallen", beschreibt "Grizma" das Unbehagen vieler Wikipedia-Nutzerinnen.
Es sei deshalb gut, den Anteil von Schreiberinnen zu erhöhen: "Um die Perspektive und Erfahrungsräume von Frauen weltweit in Wikipedia stärker abzubilden." Natürlich könnten Männer dies auch tun. Dennoch, so Grizma: "Je stärker Männer vertreten sind, desto stärker sind dann eben auch dominierende Meinungen vertreten, die dann vielleicht noch einmal zurechtgerückt werden müssten."

Nicht so fortschrittlich wie der Duden

Ein gutes Beispiel für sich ändernde Verhältnisse, die vielleicht einen höheren Frauenanteil bei Wikipedia gut vertragen könnten, ist das generische Maskulinum, das mehr oder weniger vor der Abschaffung steht. Der Duden hat es offiziell durch männliche und weibliche Formen ersetzt.
"So fortschrittlich wie der Duden ist Wikipedia natürlich nicht", sagt Grizma dazu. Natürlich gebe es Bots, die man auf entsprechende, gendergerechte Korrekturen programmieren könne. Aber Ersetzungen müssten grammatikalisch korrekt erfolgen und das könne ein Bot nicht unbedingt leisten – das müssten Menschen machen. Doch dafür reichten die personellen Kapazitäten nicht aus.

Wo steht Wikipedia in 20 Jahren?

Grizma selbst hat bereits an die 50 bis 60 neue Einträge zu verschiedenen Themen verfasst und Tausende editiert. Lachend gesteht sie: "Ich liebe diese Art der ‚Korinthenkackerei‘, die auf Wikipedia betrieben wird: Dieses sehr genaue Nachrecherchieren macht mir großen, großen Spaß. Und dann daraus, auf den Punkt genau, Dinge hineinzuschreiben, die sofort gelesen werden können in dem Augenblick, in dem ich sie veröffentliche habe – das ist so ein kleines Gefühl der Befriedigung, wenn ein neuer Artikel im Netz steht."
Wird es Wikipedia in 20 Jahren noch geben? Das sei schwierig vorherzusehen, sagt die Autorin. Entweder werde die Online-Enzyklopädie mit dem Abtreten der alten Autorengeneration an Bedeutung verlieren. Oder aber "die jungen Wilden" würden die Regie als Autorinnen und Autoren übernehmen. Und dann auch einen Schlussstrich unter das generische Maskulinum setzen.
(mkn)
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