Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature - Expeditionen (3/4) Madarejúwas Entscheidung Vom Überleben im brasilianischen Regenwald Von Thomas Fischermann Produktion: Dlf 2019 Redaktion: Tina Klopp Sendung: Freitag, 18.01.2019, 20:10-21:00 Uhr Regie: Matthias Kapohl Es sprachen: Enno Kalisch, Jonas Baeck, Sebastian Schlemmer, Axel Gottschick, Hendrik Stickan, Anne Esser, Robert Oschatz und Rainer Homann Ton und Technik: Gunter Rose und Katrin Fidorra Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sprecher Topeí In einem Traum, vor langer Zeit, lebte der Waldgott Pyreapi unter den Menschen. Doch einige sprachen schlecht über ihn und wollten ihn vertreiben. "Dann werden wir eben im Himmel leben", sagte Pyreapi zu seiner Frau. "Wir fahren hoch, mit unserem Land und unserem Haus. Du brauchst nicht mal die Hängematte einzuwickeln. Morgen, früh vor der Sonne, stehen wir auf." O-Ton Topeí - O2 Over-Voice Topeí In jener Nacht begann die yporokweruhua die große Flut, in der das Wasser den Wald und alle Hügel bedeckte. Die Menschen stürzten hinein, und die meisten ertranken. Doch das Landstück von Pyreapi stieg mit der Flut in die Höhe, und mittendrin stand das Haus seiner Familie. Auf der Reise gen Himmel wurde es kräftig durchgeschüttelt. Sie mussten es aufgeben, denn es fiel auseinander. Sie warfen seine Pfeiler und Streben ins Wasser, wo sie sich in Fische verwandelten, in Piraibas und Pacus, in Alligatoren, Stachelrochen und Wasserschlangen! Damals begann die ganze Welt, und Pyreapi wurde zu ihrem größten Gott. Zehn Menschen nur überlebten auf der Erde. Sie hatten sich in die Krone eines hohen Baumes geflüchtet, nur er ragte noch heraus, als der Fluss die Erde bedeckte. Viele Tage lang saßen sie dort fest. Doch irgendwann war die Flut vorbei und sie konnten die Erde wieder betreten. Diese Menschen waren die ersten Tenharim. Ansage: Madarejúwas Entscheidung Vom Überleben im brasilianischen Regenwald Ein Feature von Thomas Fischermann O-Ton Madarejúwa Over-Voice Madarejúwa Für unser Jagdfest kommt das beste Grillfleisch vom Tapir. Das ist das beste, das es gibt. Dann sind da der Hirsch, und die zwei Sorten Wildschweine, die wir in unserem Reservat finden: Queixada und Catitu. Diese Fleischsorten sind stets die beliebtesten für ein Jagdfest, für so eine große Angelegenheit. Von den Fischen sind Tucunaré und Surubim am besten geeignet, kleinere Fische eher nicht, nur in ganz ausgewählten Fällen bringt man die mit. Es gibt noch bestimmte Arten anderer Tiere, kleinerer Tiere, die wir auch jagen, denn sie sind für die Ernährung der jungen Mädchen bestimmt. Sie können die anderen Tiere nicht essen, nicht während der Zeit des Heranwachsens, weil sie dann nicht gesund für sie sind. Wir Tenharim dürfen nicht einfach alles essen, was man im Wald finden kann. Sprecher Madarejúwa Ich bin Madarejúwa, ein Krieger vom Stamm der Tenharim. Heute beginnt unser großes Fest. Wenn Du hier unten sitzen bleibst, am Ufer des Flusses, kannst Du alles sehen. Von hier aus hast Du den besten Blick. Den ganzen Tag über kommen unsere Jägergruppen an, aus allen Richtungen des Waldes. Von weitem schon kannst du ihre Flöten hören. Sie legen mit ihren Booten an und tragen die erlegten Tiere ins Dorf. Das laute Knallen? Das ist Feuerwerk. Einige der Jungen machen sowas. Sie haben Böller gekauft, bei einem Händler aus der Stadt. Nein, Böller gehören nicht zu unserer Kultur. Aber Böller mögen alle gern. In unserem Volk gibt es Alte, die sich das ganze Jahr über an diese Essensregeln halten. Die meisten der Alten tun das noch. Aber für die Jüngeren gilt das nicht mehr. Die Weißen haben das Leben der Tenharim stark verändert. Aber beim Jagd Fest, heute, erinnern wir uns zusammen an unsere alte Kultur. Einmal im Jahr feiern die Familien wie in der alten Zeit. Im Rest des Jahres leben die meisten von uns schon eher wie Leute aus der Stadt. Erzähler Sprecher Fischermann Ich heiße Thomas Fischermann und arbeite als Journalist für die Wochenzeitung Die ZEIT. Viele meiner Reisen führen mich nach Lateinamerika. 2013 begegnete ich den Tenharim zum ersten Mal. Die Tenharim sind ein kleines Amazonasvolk von nur 900 Menschen. Ihr größtes Dorf, in dem das jährliche Jagdfest stattfindet, liegt gleich an der "Transamazônica". Das ist eine Fernstraße, die nie asphaltiert worden ist, sie wurde aus Lehm gebaut, 4000 Kilometer lang, von West nach Ost durch den brasilianischen Regenwald. In den siebziger Jahren war sie ein Projekt der Militärdiktatur. Man kümmerte sich damals nicht darum, dass auf der Strecke das Stammesgebiet vieler Indianerstämme lag. 2013, als ich den Tenharim begegne, suche ich auf dieser Straße nach einem Krieg. Seit dem Bau der Transamazônica sind etwa 20 Prozent des brasilianischen Amazonaswaldes abgeholzt worden sind. Die Regierung möchte diese Region schnell entwickeln. Goldgräber und Holzfäller stoßen in die Wälder vor und geraten in tödliche Konflikte mit Ureinwohnern. O-Ton "CASO DOS INDIOS TENHARIM" Erzähler Sprecher Fischermann Ich höre über diesen Krieg im Fernsehen, in den Morgennachrichten. Over-Voice Fernsehjournalist Und bei uns geht es noch einmal um den Fall mit diesen Índios! Die Zusammenstöße zwischen Índios und Weißen da in der Region des Amazonas. Es geht um Gerüchte, dass die Leichen der Verschwundenen, über die wir schon berichtet haben, mitten im Reservat gefunden worden sind! Unsere Reporterin bringt Ihnen gleich weitere Informationen dazu ... Antonia! Los geht's! Over-Voice Fernsehreporterin Stefano, Luciano und Aldeney sind am 16. Dezember verschwunden, als sie über die Transamazônica gefahren sind. Der Verdacht lautet, dass hinter diesem Fall die Tenharim-Indianer stecken ... Erzähler Sprecher Fischermann Auf der Transamazônica, genau im Stammesgebiet, sind drei Männer verschwunden. Sie stammen aus den umliegenden Holzfällersiedlungen. Später findet die Polizei ihre Leichen, verscharrt in der Nähe eines Dorfes der Tenharim. Unser Reportage Team - ein Fotograf, zwei Journalisten und ein Waldführer - beschließen, an diesen Ort zu fahren. O-Ton Marcos Aurélio Over-Voice Marcos Aurélio Um diese Uhrzeit? Fährt da doch keiner mehr hinein! Erzähler Sprecher Fischermann Wir fragen einen Anwohner, einen Siedler aus der Region, über die Strecke aus. Doch von der Weiterfahrt rät er uns ab. O-Ton Marcos Aurélio Over-Voice Marcos Aurélio Die allerwenigsten machen das. Wer hier durchs Indianergebiet fährt, kennt die Geschichten nicht. Kein Einwohner fährt hier nach acht Uhr abends noch lang. Und auch nicht morgens, bevor die Sonne aufgegangen ist. Diejenigen, die die Geschichten kennen. Over-Voice Erzähler Sprecher Fischermann Sie sagen das wegen der Sache mit diesen drei Toten? Over-Voice Marcos Aurélio Ach was, doch nicht wegen dieser drei! Das ist doch scheinheilig, hier von drei Toten zu sprechen. Diese Indianer bringen seit 20 Jahren die Leute um. Jetzt haben sie drei Leichen gefunden. Die haben sie gefunden, diese drei. Aber Tote gibt es viel mehr. Erzähler Sprecher Fischermann Diese erste Fahrt zu den Tenharim ist für mich der Beginn einer langen Recherche. Wobei ich zugeben muss: Gleich beim ersten Mal habe ich keinen Erfolg. Wir erreichen ein erstes Dorf der Tenharim, mitten in der Nacht, aber dort ist keine Menschenseele zu sehen. Soldaten versperren uns den Einlass ins Indianergebiet. Sie wollen neuerliche Zusammenstöße verhindern. Doch mithilfe der Behörden kommt schon wenige Tage später ein erster Kontakt zustande, und ich fahre wieder und wieder hin: Vier Stunden Flug von Rio aus in die Amazonasstadt Porto Velho, Leihwagen mieten, per Fähre und Boot übersetzen, Tausende von Kilometer durch den Wald. Im Autoradio läuft Tecno Brega, die Lieblingsmusik der weißen Siedler und auch, heutzutage, vieler Indianervölker. Schließlich sprechen die Häuptlinge eine Einladung aus: Ich soll sie für längere Zeit besuchen, bei ihnen leben und so die Wahrheit über ihr Volk erfahren. Ich darf im Kanu und zu Fuß durch die Weiten ihres Reservats streifen, bis in die alten Dörfer und heiligen Stätten. Ich soll ihre Lebensweise kennenlernen und verstehen, was sie zu beschützen haben, warum sie so erbittert gegen die weißen Siedler und Holzfäller kämpfen. Die Tenharim sagen mir, dass sie keine Mörder sind, doch dass sie ihr Land gegen alle Eindringlinge verteidigen werden. Erzähler Sprecher Fischermann Bei einer dieser ersten Reisen lerne ich Madarejúwa kennen. Er ist ein junger Krieger seines Volkes, damals 19 Jahre alt. Sein Häuptling weist ihn mir zu, um mich zu beschützen. Madarejúwa ist zwar noch nicht sehr erfahren, aber er gilt bei den Tenharim als ein Ausnahmetalent, als ein Meisterschütze, der schon im Alter von acht Jahren seinen ersten großen Tapir erlegt hat. Bei unserer ersten Begegnung, in seinem Dorf an der Straße, bin ich von ihm enttäuscht. Madarejúwa trägt ein T-Shirt, Badeshorts und eine angeberische Sonnenbrille. Er spricht von seinem Projekt, einen alten Motorroller zu reparieren, über das Fernsehprogramm und sein Mobiltelefon. Einen Indianerkrieger habe ich mir anders vorgestellt! Als wir zum ersten Mal zur gemeinsamen Exkursion in sein Stammesgebiet aufbrechen, erwarte ich nicht viel. Atmo Waldgeräusche, Fischermann und Madarejúwa rufen einen Affen, man hört den Affen antworten Over-Voice Fischermann Ist da ein Affe? Over-Voice Madarejúwa Ja, ein Affe. Dort. Erzähler Sprecher Fischermann Sobald das Dorf außer Sichtweite ist, wird Madarejúwa ein anderer Mensch. Bald schlagen wir uns auf den alten Pfaden des Indianervolkes durch den Wald. Madarejúwa geht barfuß voran, mit einem Köcher Pfeile über die Schulter geschlungen und seiner Machete in der Hand. Wir laufen durch dichten Regenwald, und er muss bei jedem Schritt den Weg freihacken, weil er überall von Schlingpflanzen und Ästen versperrt ist. Ganz selbstverständlich trägt Madarejúwa nun seine Federkrone, und er bemalt sich zur Jagd mit rostroter Farbe aus den Samen den Annattostrauchs. Der deutsche Reporter trottet ungelenk hintendrein, in Stiefeln und mit einer Hightech-Ausstattung aus dem Abenteuerstore. Ich frage ihn, woher er denn weiß, dass da ein Affe ist. Over-Voice Madarejúwa Da drüben, kannst ihn doch sehen Over-Voice Madarejúwa Komm her, schau dort hinauf. Over-Voice Madarejúwa Sei leise, er kommt jetzt zu uns! Erzähler Sprecher Fischermann Madarejúwa spricht mit diesen Tieren. Irgendwie gelingt es ihm, sie mit Pfiffen und Schreien herbeizurufen. An diesem Tag schießt er auch einen Affen ab, ein Kapuzinerweibchen, mit seiner Flinte. Dann sucht er eine Lichtung für unser Nachtlager aus. Er überprüft den Boden auf Schlangen und die Spuren anderer Tiere. Am Abend facht er ein Feuer an und zerlegt den Affen mit seiner Machete. Ich gewöhne mich widerstrebend an solche Essens-Optionen im Wald. Over-Voice Fischermann Warum hast Du mir eben erzählt, dass es schneller geht, einen Affen mit einer Flinte zu schießen? Over-Voice Madarejúwa Manchmal nehme ich einen Pfeil, manchmal nehme ich das hier, mein Gewehr. Das ist praktischer, wenn man bloß schnell etwas Essen braucht. Over-Voice Fischermann Mit Pfeil und Bogen bist Du doch auch ganz schön schnell. Over-Voice Madarejúwa Genau. Over-Voice Fischermann Aber vielleicht weniger schnell? Over-Voice Madarejúwa Nein... Pfeile sind auch schnell, ich finde, es ist eine Geschmackssache, wenn man alleine ist, finden einige es praktischer, mit einem Gewehr schnell auf etwas zu zielen. Ein kleines Tier jage ich ab und zu mit der Flinte, für ein großes benutze ich unbedingt einen Pfeil. Over-Voice Fischermann Was ist da der Vorteil von Pfeil und Bogen, bei einem großen Tier? Over-Voice Madarejúwa Wenn ein Tier von einem Pfeil getroffen wird, stirbt es auf der Stelle. Das Gift dringt in seine Adern ein, aus dem Pfeil. Das Tier stirbt binnen weniger Minuten. Es gibt da eine Art von Gift, im Pfeil. Wenn man einen Tapir trifft, stirbt er binnen weniger Minuten. So ist das. Over-Voice Fischermann Wer hat es denn erfunden, Eure Jagdmethode, Euer Gift? Over-Voice Madarejúwa Das Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die Vorfahren, die Verwandten aus der ganz alten Zeit, haben es erfunden. Sie lehren uns alles über die Jagd. Sprecher Fischermann Ein paar Tage später kehren wir mit dem Boot ins Marmelos-Dorf zurück, an der Durchfahrtstraße Transamazônica, wo kürzlich das Jagdfest stattgefunden hat. Auf dem staubigen Platz in der Mitte sehe ich den alten Topeí sitzen. Er ist der letzte Schamane der Tenharim, und einer der beliebtesten Geschichtenerzähler hier. Grüppchen aus Kindern und Jugendlichen sitzen im Schatten eines Mangobaums um ihn herum. Im Dorf herrscht alltägliche Geschäftigkeit. Die Tenharim bewahren ihr Wissen über den Wald in Geschichten auf, wie Topeí sie gerade erzählt und dazu singt. Schon häufig habe ich mich zu ihm und zu den anderen alten Männern gesetzt und jedes Mal etwas gelernt: über den Wald, die alten Helden, Götter und Geister. Erzähler Sprecher Fischermann Einige mythische Begebenheiten scheinen mir Kreisläufe darzustellen, in denen die Natur und die Menschen ein Gleichgewicht finden müssen. Andere Geschichten erinnern, wie zur Mahnung, an frühere Missgeschicke des Menschen im Umgang mit der Natur. Am Ende begreife ich ihre gesammelten Werke als eine Art Gebrauchsanweisung für den Regenwald. Man kann sich die Geschichten wie ein forstwirtschaftliches Lehrbuch vorstellen, das seit Generationen mündlich weitergeben wird, und das sich dabei laufend verändert und weiter entwickelt. O-Ton Madarejúwa Over-Voice Madarejúwa Mit der Zeit der Kastanienernte beginnt für uns Tenharim das Jahr. Schon vor diesem Tag bereiten die Dorfgemeinschaften und die Familien alles vor, um an diese Orte hier in den Wald zu ziehen, in die Kastanienhaine nahe an den alten Dörfern. Sie organisieren sich, bereiten einen Proviant aus Maniokmehl vor, setzen die Kanus in Stand, nähen die Säcke. Erzähler Sprecher Fischermann Ehrlich gesagt: Wir stehen im Wald, und es gibt hier nichts zu sehen. Nach einigen Stunden Flussfahrt haben wir es bis nach Pagão geschafft, an eine Stelle, von der Madarejúwa sagt: dass hier mal die größte Ortschaft der Tenharim war. 40 Familien lebten früher hier, rings um ein großes Rundhaus in der Mitte. Doch zu sehen ist jetzt bloß eine große Lichtung, mit ein paar verrotteten Holzpfählen, von denen Madarejúwa erzählt, dass hier mal Häuser standen. Sie waren aus Holz konstruiert und mit Palmwedeln gedeckt. Pagão ist ein verlassener Ort, aber Madarejúwa sagt, dass hier von Mai bis Juni trotzdem Leben einkehrt. Over-Voice Madarejúwa In diesen Monaten ziehen die Familien komplett in den Wald, sie leben dann dort und beginnen die Kastanienernte. Wir gehen zu den Bäumen hin, sammeln die Kastanienhülsen ein, die ringsherum auf den Boden gefallen sind, schichten sie zu einem kleinen Berg zusammen, brechen sie auf und legen sie in die Säcke. Wenn die Säcke voll sind, transportieren wir sie ab, waschen die Kastanien im Wasser, und wählen aus, welche am besten für den Konsum sind. Dann trocknen wir sie in der Sonne, auf Palmblättern oder auf einem Tuch. Erzähler Sprecher Fischermann Madarejúwa erzählt mir, dass in den Monaten der Ernte der zweite Teil der Ausbildung jedes jungen Tenharim beginnt: die praktische Anwendung des Wissens aus den Geschichten. Sprecher Text Madarejúwa Wir jagen in dieser Zeit auch Wildschweine, Tapire und Affen. Wir fahren mit Kanus über die Flüsse, angeln und schießen große Fische mit Pfeilen. Wir sammeln Früchte und Hölzer, Açaí, Kakao, Cupuacú- und Uixui-Früchte. Die Eltern sagen uns, wenn wir Kinder sind: So weit dürft ihr in den Wald gehen, aber weiter nicht. Nur auf diesem Pfad! In diesem Waldstück! Nur bis zum Untergang der Sonne! Wusstest du, dass es Flussdelfine im Rio Marmelos gibt? Wir haben neun verschiedene Affenarten, sogar Spinnenaffen mit tiefschwarzem Fell und einem Klammerschwanz. Wir wissen, wo die Schildkröten leben und ihre Eier vergraben, damit die Jungen schlüpfen können. Im Wald essen wir Obst, das wir im Dorf nicht bekommen. Abends sitzen wir ums Feuer herum, hören Lieder, Geschichten und Radio. Eines musst du unbedingt verstehen. Du hast schon gesehen, dass wir im Wald die Tiere rufen, oder? Sie kommen dann zu uns. Du weißt noch nicht, dass wir auch mit ihren Seelen reden, wenn sie schon gestorben sind. Es ist gut, das zu tun, es ist ein wichtiger Teil der Jagd. O-Ton Gesang Topeí Sprecher Text Madarejúwa Der Gesang ist eine Botschaft an die Tiere, an ihre Seelen, ihre Verwandten. Wir denken dann an die Tiere, und wir erfahren, wie es um sie steht. Wenn wir die Tiere töten, tragen wir dann nicht auch Verantwortung dafür, dass sie wiedergeboren werden? So hat es mein Großvater Kikí immer erzählt. O-Ton Kikí Over-Voice Sprecher Kiki Der Herr der Schweine muss die Seelen ersetzen, wenn Angehörige seiner Sippe gestorben sind. Neue Schweinchen werden geboren, um den Platz der Toten einzunehmen, die der Jäger getötet hat. Nachts singt er ein Lied und verabschiedet die Seelen seiner Verwandten, die gefallen sind. Dann ruft er andere Seelen herbei, in gleicher Zahl, damit neue Schweine geboren werden können. Text Sprecher Kiki Wenn es schnell gehen muss, wenn zu viele Schweine getötet wurden, hat er keine große Wahl. Dann nimmt er, was er kriegen kann: Die Seelen von Gras, Alligatoren und Schlangen und Ameisen. Im ganzen ka'gwyrapora, dem Reich der Tiere, bedient er sich. Sogar aus einem alten Stück Holz kann der Herr der Wildschweine eine Seele holen. Das funktioniert, aber gut ist es nicht. Die Tenharim merken dann, bei der nächsten Jagd, dass ihnen das Fleisch nicht schmeckt. Es ist trocken, hat keinen Saft. So weiß man, dass eine junge Seele in dem Schweinchen steckt. Wenn die Seele vor kurzem noch ein Stück Holz war, ein Alligator oder eine Anakonda-Schlange, wie soll das Schwein dann schmecken? Eine Schlange weiß doch nicht, dass man Früchte essen muss, um fett zu werden. Doch wenn die Seele schon zum dritten oder vierten Mal in einem Wildschwein lebt, weiß sie längst, welche Früchte ein Schweinchen frisst. Sie kann gute Nahrung von schlechter unterscheiden, kennt die Blätter der Babassu-Palme und weiß von den Früchten und Samen am Ufer der Flüsse. Die Mutter wird diese Schweinchen mit Liebe säugen und die Familie beschützen. Der Vater wird für die Jungen Lieder singen und ihnen die Pfade durch den Wald erklären. Solche Schweine werden richtig fett. Ihr Fleisch nimmt den Geschmack des Waldes an. So erneuert sich das Leben im Land der Tenharim. Sprecher Text Madarejúwa Wir sind die junge Generation, aber wir haben viel Achtung für das, was die Alten uns erzählen. Wir haben alles von ihnen gelernt. Doch wir sehen nicht alles so wie die Alten. Wir Jungen sprechen die Sprache der sociedade fast so gut wie unsere eigene Sprache, die Kagwahiva heißt. Ich kenne mich sogar aus in der Stadt. Zwei Jahre lang habe ich in Humaitá gelebt, als ich zur Schule ging. Die Indianerschutzbehörde wollte, dass wir Indianer eine Schule besuchen. Als ich zum ersten Mal in die Schule ging, hat mein Vater mich mit dem Omnibus geschickt. Der hält am Marmelos-Dorf, wenn man sich an die Straße stellt und dem Fahrer winkt. Mein Vater hat das Ticket gegeben, und ich bin eingestiegen. Die Fahrt dauert vier oder fünf Stunden lang und geht über die Transamazônica durch unser Land. Vom Schülerwohnheim bis zur Schule sind es 20 Minuten zu Fuß. Man läuft an den Läden vorbei. Jeden Tag sieht man Dinge, die man gerne kaufen will: Kleider, Schuhe, Handys, Messer, Campingsachen für den Wald. Ich hatte kein Geld, aber ich hätte gerne welches gehabt. Jeder Laden war interessant. Viele Jüngere, die in den Dörfern an der Straße leben, sind von diesen Dingen aus der sociedade angezogen. Sie mögen die Schaufenster und die Werbung im Fernsehen. Manchen gefällt es gut in der Stadt, sie wollen sogar dort leben. Erzähler Sprecher Fischermann Ein paar Tage später bin ich mit Madarejúwa im Auto unterwegs. Wir sitzen in meinem Mietwagen, rollen und rumpeln über die Transamazônica und wollen ein Nachbardorf der Tenharim erreichen. Dort gibt es eine Schule, von der Madarejúwa mir erzählt, dass sie viel Unterstützung von den Kirchen erhält. Madarejúwa sagt, dass ich sehen soll, wie die Dinge aus der Stadt auch die Dörfer der Tenharim erreichen. Für heute ist ein Schulfest angesagt. Sprecher Madarejúwa Lass uns schnell aussteigen, das Fest in der Dorfschule fängt an. Erzähler Sprecher Fischermann Glühbirnen und ein paar Lampions hängen auf über dem Dorfplatz von Boa Vista. Es ist voll, die Familien sitzen im Kreis. Die Musik ist laut. Schülerinnen und Schüler machen eine Tanzvorführung, sie tragen T-Shirts und Sweatshirts in modischen Farben. Sprecher Madarejúwa Setz dich auf die Bank in der ersten Reihe. Dort kannst du die Schulmädchen besser sehen. Tagelang haben sie für das Dorfschulfest geübt. Ein Lehrer aus der Stadt ist zu Besuch, er hat die Musik und die Tänze einstudiert. Die Musik ist laut, ich finde sie hat einen guten Rhythmus. Sprecher Fischermann Also, ich finde das ein bisschen merkwürdig? Das ist doch Sertanejo-Musik, die Musik Eurer Feinde! Die weißen Siedler, die Rinderzüchter und Holzfäller, hören sowas. Sprecher Madarejúwa Wir hören sie gern. Für das Schulfest haben die Schüler sich Sertanejo gewünscht. Du siehst, die Stimmung ist gut, und alle tragen T-Shirts und Hosen. Das ist hier nicht wie beim Mbotava-Fest. Die Lehrer sagen, dass gute Kleider Gott gefallen. Sprecher Fischermann Gott? Wie heißt Euer Gott? Sprecher Madarejúwa Jesus natürlich! Zwei Kirchen gibt es im Land der Tenharim, die Baptisten und die Versammlung der Christen. Die Vertreter anderer Kirchen besuchen uns manchmal und fragen, ob sie Gottesdienste abhalten können. Sie bringen Geschenke für die Schulen und für die Häuptlinge mit. Das Dorfschulfest hat die Vereinigung der Christen mit organisiert. Sprecher Text Madarejúwa Es gibt viele Geschichten, die die Lehrer an der Dorfschule anders erzählen als die Alten. Nicht wirklich anders, nur moderner, mit mehr Details, verstehst Du. Kennst Du die Geschichte von der yporokweruhua? Wie das Land der Tenharim überflutet wurde? Das Haus unseres Gottes Pyreapi wurde damals vom Wasser in den Himmel getragen. Die Alten erklären aber nie genau, wie das ging. Die Lehrer, die aus der Stadt an die Schulen kommen, sagen, dass das Haus an einem Seil an einer Wolke hing. An einem Seil aus Stahl, wie die Weißen es benutzen. Der heilige Petrus zog von oben an dem Seil, Petrus und alle Heiligen, die im Himmel leben und von denen in der Bibel steht. Aber einigen Anführern der Tenharim gefällt das Schulfest nicht. Sie sagen, die Kirchen mischen sich zu sehr in unser Leben ein. Sprecher Fischermann Madarejúwa rät mir, darüber mit Gilvan zu sprechen, einem der jüngsten Anführer der Tenharim. Er ist der Häuptling von Campinhu-hu, am Tag darauf fahren wir in sein Dorf. Es liegt nur zehn Minuten von Boa Vista entfernt. Gilvan ist ein junger Mann um die 30, er trägt seinen Federschmuck. Er bittet uns auf ein Bänkchen vor sein Haus aus Holz. O-Ton Gilvan Over-Voice Gilvan Sie müssen das verstehen, unser ganzes altes Wissen ist sehr wichtig für uns. Vor allem die Sprache. Wir bewahren stets die Rituale, die dem Volk der Tenharim gehören. Zeremonien für das Erwachsenwerden, für die Erinnerung an unsere Toten, das bewahren wir bis heute und wir werden es auch weiter bewahren. Wir schreiben das auch den Lehrern vor, die hier arbeiten: dass sie es allen Kindern beibringen müssen. Over-Voice Fischermann Es gibt inzwischen so viele Einflüsse von außen. Ich sehe bei Ihnen im Dorf hier Mobiltelefone. Einige haben Motorroller. Bedroht so etwas das Ihre alte Kultur? Over-Voice Gilvan Vieles davon sehe ich als Bedrohung. Andere Sachen sind einfach notwendig geworden. Wir müssen mit den Leuten daran arbeiten, dass sie diese Dinge benutzen, aber für gute Zwecke, und dass sie die schlechten Konsequenzen vermeiden: den Verlust unserer Kultur. Erzähler Sprecher Fischermann Der Häuptling Gilvan, das fällt beim näheren Hinsehen auf, trägt unter seinem Federschmuck eine sorgsam gepflegte Fußballerfrisur. Sein Oberkörper ist frei, nur mit traditionellem Kettenschmuck behängt, aber er trägt auch eine gut sitzende Jeans und elegante Schuhe. Im Hintergrund sieht man eine Satellitenschüssel stehen, das Antennenkabel führt geradewegs in sein Haus. Over-Voice Fischermann Viele Leute haben auch Fernseher, das habe ich in etlichen Dörfern gesehen. Das Programm wird nicht von Indigenen gemacht, sondern es sind Sendungen aus der Welt der Weißen, ist das nicht Gift für Ihre Kultur? Over-Voice Gilvan Sehr viel Gift. Sie zeigen Dinge, die selbst in der Gemeinschaft der Weißen nicht überall akzeptiert sind, nicht für jedes Alter geeignet. Wenn eine Gemeinschaft nicht gefestigt ist, bringt das Fernsehprogramm Probleme mit sich. Manche Sendungen werben für den Missbrauch von Alkohol. Andere Sendungen zeigen sehr vulgäre Szenen. Was sie nicht zeigen, ist das Leben unserer indigenen Völker. Und wenn es doch mal eine Reportage gibt, reden sie sogar noch schlecht über uns! Das Fernsehprogramm vermittelt uns ein schlechtes Bild über uns selbst. Over-Voice Fischermann Viele Tenharim sagen inzwischen, dass sie in die Kirche gehen. Ist das kein Problem für Ihre Autorität, als Häuptling? Over-Voice Gilvan Nein, das glaube ich nicht. Die Frage der Kirche nicht. Das Volk der Tenharim hat schon immer an Gott geglaubt. Also daran, dass es Gott gibt. Anders als die Weißen. Aber so ähnlich, wir glauben an Tupananga, ganz ähnlich wie bei den Weißen Jesus, und sein Vater ist Gott. Erzähler Sprecher Fischermann Es ist ein Argument, das immer ganz schnell kommt, bei sämtlichen Anführern der Tenharim. Man fragt nach den Kirchen, den Missionaren, und sie antworten, dass die christliche Lehre für sie nichts Neues sei. Die traditionellen Sagen der Tenharim hätten immer schon einen Gott im Himmel gekannt. Das Christentum sei mit ihrem Volksglauben sehr kompatibel, da gebe es kein Problem. Mir kommt es wie eine Schutzbehauptung vor. Ein frustriertes Eingeständnis, dass sie am Einmarsch der fremden, christlichen Kultur ohnehin nicht viel ändern können. Darüber: Over-Voice Gilvan Die Kirchen dürfen sich nicht in die Geschäfte des Häuptlings einmischen. Jede Entscheidung braucht die Zustimmung des Häuptlings. Jeder Tenharim trifft selber seine Entscheidungen. Jede Familie kann wählen, ob sie in eine Kirche gehen will. Aber die Kirchen dürfen sich in das Leben der Gemeinschaft nicht einmischen oder dem Volk etwas wegnehmen. Over-Voice Fischermann Aber die Kirchen haben ihre eigenen Rituale, das haben wir bei diesem Schulfest gerade gesehen. Da wurden evangelikale Kirchengesänge angestimmt, und ein Pastor erzählte mir, dass er niemals zu den traditionellen Festen in Ihren Dörfern geht. Sie wollen mir erzählen, dass es da keinen Konflikt gibt? Over-Voice Gilvan Ich glaube, die Kultur der Tenharim muss noch weiter gestärkt werden. Brasilien feiert sich heute als ein Land der kulturellen Vielfalt. Wir werden die Kulturen der anderen respektieren, aber wir wollen auch, dass unsere Kultur Respekt erfährt. Wir sind ein sehr einiges Volk. Ein starkes Volk. Obwohl wir Feinde haben, obwohl wir bedroht werden, lassen wir uns nicht unterkriegen. Wir sind ein kleines Volk. Dieses Land, diesen Wald zu besitzen, hat uns die Leben vieler Krieger gekostet. Wir werden unser Land verteidigen. Erzähler Sprecher Fischermann Die Kultur bewahren und das Land verteidigen - aber wie soll das funktionieren? Ein, zwei Autostunden von den Straßendörfern der Tenharim entfernt brennt der Wald. Die Rodung schreitet hier immer weiter voran, und zwar auch auf Flächen, die zum Indianerreservat gehören. Baumfällen ist an diesen Orten illegal, aber die Behörden sind überfordert. Und die Holzfäller sind äußerst gewaltbereit. Wir verbringen den ganzen Tag bei Gilvan, sitzen auf einem Bänkchen vor seinem Holzhaus in Campinhu-hu. Campinhu-hu liegt an der Straße so wie das Marmelos-Dorf, wo Madarejúwa lebt. Aber es gibt hier nur eine Handvoll Häuser, in großzügigem Abstand auf eine weiße Sandfläche gebaut. Auch von hier aus kann man die Holzlaster sehen. Sie fahren, von morgens bis abends, über die Transamazônica, ächzen, sind schwer mit frisch geschlagenen Baumstämmen beladen. Seit den neunziger Jahren wachsen rings um das Reservat neue Siedlungen heran, in denen große Sägewerke stehen. Einige dieser Siedlungen haben bereits mehrere tausend Einwohner, viel mehr als das Reservat der Tenharim. Sie rücken vor, immer tiefer in den Wald. Mit dem Raubbau kommen Gewalt und Konflikte. Die drei Morde waren die bisher dramatischste Zuspitzung im Tenharim-Land. O-Ton: "Polícia prende cinco índios Tenharim" Over-Voice Fernsehjournalist Gestern Nacht sind in der Amazonasregion fünf Tenharim-Indianer festgenommen worden. Sie stehen im Verdacht, drei Männer umgebracht zu haben, die an der Transamazônia verschwunden sind. Over-Voice Fischermann Gilvan, jetzt mal Klartext, haben Sie oder die anderen Verhafteten die drei Männer aus der Holzfällersiedlung umgebracht? Over-Voice Gilvan Ganz sicher nicht. Over-Voice Fischermann Keiner von Ihnen war es? Over-Voice Gilvan Mit Sicherheit. Wir suchen aber nach Wegen, unseren Wald zu bewachen. Wir wollen die Holzfäller selber beaufsichtigen, unsere Gemeinschaft will das machen. Aber dafür bräuchten wir Unterstützung: Fahrzeuge, Benzin, um die Leute dorthin zu bringen. Im Augenblick haben wir das nicht. O-Ton "CASO DOS INDIOS TENHARIM" Darüber: Erzähler Sprecher Fischermann Der Dreifachmord an der Transamazônica vom 16. Dezember 2013 ist bis heute nicht aufgeklärt. Die Polizei, Nachrichtensender aus der Region, Lokalpolitiker, und die weißen Siedler halten die Tenharim für kaltblütige Mörder. Strafverteidiger bei der Indianerschutzbehörde halten dagegen: Die drei Morde seien den Tenharim nur in die Schuhe geschoben worden. Vermutlich von Holzfällern, um Stimmung gegen das indigene Volk zu machen. Was seit Jahren schwelt, bricht seit dem Dreifachmord erst recht offen aus. O-Ton "CASO DOS INDIOS TENHARIM" Gegen Ende irgendwann: Erzähler Sprecher Fischermann Szenen kurz nach dem Dreifachmord an der Transamazônica, wie sie im Lokalfernsehen übertragen werden. Ein Mob aus mehreren hundert Männern zieht mit brennenden Fackeln durch die Straßen der nahen Siedlung Humaitá, sie stecken das Gebäude der Indianerschutzbehörde in Brand. Ein paar Tage später taucht der Mob auch vor dem Marmelos-Dorf auf. Mit Motorsägen nehmen wütende Männer einige Hütten am Rand der Straße auseinander. Der Häuptling im Hauptdorf Marmelos, ein besonnener Mann namens Tupajakuí , erzählt, wie er an diesem Tag binnen weniger Minuten einen folgenreichen Entschluss treffen musste. O-Ton Tupajakuí Over-Voice Tupajakuí Der Vizehäuptling und die Krieger haben damals einen Riesendruck gemacht. Wenn Du in 15 Minuten keinen Befehl zum Angriff gibst, dann gibt es hier ein Blutvergießen! Sprecher Erzähler Sprecher Fischermann Tupajakuí ist ein Typ, der einem Angst einflößen kann: Ein Krieger mit einem riesigen Oberkörper, den er selten in einem Hemd versteckt. Die pechschwarzen Haare trägt er kurzgeschoren am Kopf. Er sitzt in der Küche seines Holzhauses an der Transamazônica. Der Tisch ist mit einer Blümchendecke aus Plastik bedeckt, im Hintergrund surrt ein Kühlschrank vor sich hin. Over-Voice Fischermann Wo war das denn, als die Weißen auf Ihr Dorf zumarschierten? Over-Voice Tupajakuí Das war hier, gleich an der Straße da vorne. Sie kamen aus der Holzfällersiedlung am Straßenkilometer 180, zogen an unserem Dorf vorbei - und erstmal haben sie gar nichts gemacht. An allen Dörfern zogen sie vorbei, bis ans andere Ende unseres Reservats. Und dann kamen sie wieder zurück und steckten auf dem Weg die Hütten in Brand. Over-Voice Fischermann Sie steckten einfach die Hütten in Brand? Over-Voice Tupajakuí Ja, auf dem Rückweg, da griffen sie an. Am Anfang dachte ich mir: Das ist eine friedliche Demonstration, die lassen wir in Ruhe. Das ist ja eine öffentliche Straße. Over-Voice Fischermann Aber dann wurde klar, dass es doch nicht friedlich war. Over-Voice Tupajakuí Nein, war es nicht. Die Mehrheit dieser Leute war bewaffnet. Die saßen in ihren Autos, mit Waffen in der Hand, das haben unsere Späher genau gesehen. Over-Voice Fischermann Und deshalb planten Sie eine Reaktion. Over-Voice Tupajakuí Ja. Over-Voice Fischermann Waren Sie bewaffnet? Womit denn, mit Pfeil und Bogen? Over-Voice Tupajakuí Ja sicher. Schon als sie das erste Mal am Dorf vorbeizogen - die waren ja ganz langsam! - kamen die Verwandten aus den anderen Dörfern zu uns. Sie sagten, dass das nicht einfach eine Demo war. Sie sagten: Wir werden sie gleich angreifen! Wir schließen die Straße hinter der Brücke über den Marmelosfluss, und von der anderen Seite gehen wir auf sie los. Es war alles geplant. Wir hatten sie schon eingekesselt. Over-Voice Fischermann Meinen Sie denn, dass Sie mit Pfeil und Bogen eine Chance gehabt hätten? Over-Voice Tupajakuí Jeder unserer Krieger hatte drei fertig vorbereitete Pfeile bei sich. Und wir haben uns so aufgestellt, dass wir sie alle auf einen Streich eliminiert hätten. Over-Voice Fischermann Binnen 15 Minuten wären alle tot gewesen, haben Sie mir vor einigen Tagen gesagt. Over-Voice Tupajakuí Wir wissen doch, wie das geht. Wie man das macht. Over-Voice Fischermann Und dann haben Sie sich entschieden, Ihre Krieger doch zurückzupfeifen. Over-Voice Tupajakuí Nicht anzugreifen, genau. Over-Voice Fischermann Was wäre denn passiert, wenn Ihre Krieger doch angegriffen hätten? Over-Voice Tupajakuí Wenn ein Krieg ausgebrochen wäre, wäre es am Ende auch schlecht für uns. Es ist keine Frage, dass wir gewonnen hätten. Aber das Problem wäre dadurch nur größer geworden. Erzähler Sprecher Fischermann Madarejúwa treffe ich am Abend wieder. Er ruht sich auf der Veranda seines Großvaters in einer Hängematte aus. Ich frage ihn, ob er damals auch mit Pfeil und Bogen am Rand des Dorfes stand, doch er verneint. O-Ton Madarejúwa Over-Voice Madarejúwa Ich war damals doch noch in der Stadt, wegen der Schule. Ich war nicht im Dorf. Over-Voice Fischermann Aber das war eine komplizierte Situation, oder? Wie hast Du von der Sache erfahren, und wann bist Du dann wieder ins Dorf zurückgekehrt? Over-Voice Madarejúwa In der Stadt haben sie auch gegen uns demonstriert. Sie haben das Gebäude der Indianerschutzbehörde in Brand gesteckt... Over-Voice Fischermann Ja, hast Du das gesehen? Over-Voice Madarejúwa Ich hab's gesehen. Over-Voice Fischermann Und dann bist Du aus der Stadt wieder ins Marmelos-Dorf zurückgekehrt? Over-Voice Madarejúwa Genau, denn sie sagten uns: Wenn Du bleibst, dann bringen sie jeden Tenharim um. Over-Voice Fischermann Wer hat das gesagt? Over-Voice Madarejúwa Die Leute. Die Weißen. O-Ton "POSSÍVEL CONFRONTO COM ÍNDIOS" Over-Voice Fernsehjournalist Warum sind diese Sachen hier in Brasilien so kompliziert? Jaja, die Rechte der Indianer müssen respektiert werden. Aber ich verstehe nicht, warum so ein Indianerreservat ein gesetzloses Gebiet mitten in Brasilien ist! Und nicht mal die Polizei darf ohne Erlaubnis rein! Sind diese Indianer denn keine Brasilianer? Die sollen den gleichen Gesetzen gehorchen wie alle hier. Erzähler Sprecher Fischermann Die Konflikte mit den Holzfällern reißen nicht ab. Hin und wieder halten Autofahrer auf der Straße vor dem Dorf, rufen den Tenharim Beschimpfungen zu. Im September fahren Anhänger des künftigen Präsidenten Jair Bolsonaro an den Tenharim-Dörfern vorbei, sie spielen laute Musik und johlen. Bolsonaro lehnt Sonderrechte für indigene Völker entschieden ab und hat unter Holzfällern viele Freunde. Im Oktober 2018 wird ein Tenharim bei einem Zusammenstoß in der Region erschossen, ein anderer liegt mit einer Schusswunde im Krankenhaus. Die Tenharim wissen, dass die Stimmung im Land sich gegen sie wendet. Doch sie wollen ihre Dörfer schützen und ihren Wald verteidigen - um jeden Preis. O-Ton Madarejúwa Over-Voice Madarejúwa Wir wollen nicht, dass der Wald abgeholzt wird. Das ist schlimm für die Menschen, und für die Tiere. Mehr noch für die Tiere. Sie sind unschuldig. Sie wissen von nichts. Sie wissen nicht, wie sie sich verteidigen sollen. Erzähler Fischermann: Auf dem Dorfplatz von Marmelos, wo wir uns an einem späten Abend treffen, läuft laute Musik im Hintergrund. Die jungen Leute des Dorfes haben das Autoradio eines Trucks angestellt, der hinter dem Haus des Häuptlings parkt. Over-Voice Madarejúwa Und wir Tenharim beziehen aus dem Wald alles, was wir brauchen. Fleisch, Früchte, Medizin, das gibt es alles im Wald. Deshalb ist der Wald so wichtig für uns. Over-Voice Fischermann Ihr tötet die Tiere auch selber. Over-Voice Madarejúwa Ja, wir töten, aber um zu essen. Wir zerstören aber nicht alles. Wir töten kein Tier und lassen es dann liegen, das Fleisch verderben. Wir töten, um unsere Familien zu ernähren. Und alles hat für uns Grenzen. Erzähler Fischermann: Madarejúwa ist nachdenklich heute. Er wirkt fast ein wenig traurig. Over-Voice Madarejúwa Diese Leute, die in unser Land eindringen, sie holzen alles ab. Sie wollen das Holz haben. Vor allem das Holz, und die Erze aus der Erde. Sie wollen ausbeuten, nichts als das. Erzähler Sprecher Fischermann Madarejúwa sagt, dass er von den Alten alles gelernt habe, um als Krieger gegen diese Feinde zu bestehen. Auf dem Dorfplatz demonstrieren die Alten den Umgang mit Pfeil und Bogen, den die Tenharim seit Jahrtausenden weitergeben: Im Kreis laufen, ablenken, sich verstecken, Zielen, Treffen, weiterspringen. Madarejúwa, jetzt mal ganz ehrlich: Wie willst Du diese Auseinandersetzung denn gewinnen? Wollt Ihr das ganz alleine schaffen, willst Du im 21. Jahrhundert noch mit Pfeil und Bogen losziehen? Ihr redet doch auch mit den brasilianischen Behörden, mit der Polizei. Ihr habt sie um Schutz gebeten, richtig? O-Ton Madarejúwa spricht über Selbstverteidigung Over-Voice Madarejúwa Bei den Behörden wissen alle Bescheid. Wir haben alles klar angekündigt. Wir wollen mit niemandem Streit, aber das da haben wir nur ein einziges Mal durchgehen lassen. Diesen Aufmarsch hatten wir nicht erwartet, damit hatten wir nicht gerechnet. Beim nächsten Mal werden wir ein Zeichen setzen. Das wissen alle, das weiß auch die Regierung von Brasilien. Wenn diese Demonstranten hier nochmal ankommen, dann wissen wir, was zu tun ist. Und die wissen das auch. Wir haben das allen klargemacht. Over-Voice Madarejúwa Und ich sage Dir, die trauen sich auch nicht mehr zurück. Erstmal, weil die Polizei und das Militär jetzt darauf achten. Mit denen haben wir gesprochen, unsere Anführer haben es den Regierungsvertretern auf Versammlungen erklärt. Sie sollen dafür sorgen, dass diese Demonstranten nicht wieder zurückkommen dürfen. Und wenn sie sich doch nicht darum kümmern, lösen wir das Problem auf unsere Weise. Besser ist es, die lösen das Problem auf ihre Weise. Denn unsere Art ist ganz anders. Over-Voice Fischermann Du sprichst von Gewalt. Over-Voice Madarejúwa Habe ich ja gesagt. Alle wissen Bescheid, was ihnen blüht. Over-Voice Fischermann Das Problem ist, dass Dein Volk aus 900 Menschen besteht. Eure Gegner sind viel mehr, schwer bewaffnet, und sie laufen mit kleinen Privatarmeen durch den Wald. Over-Voice Madarejúwa Wir Krieger haben alle geschworen, dass wir notfalls in den Tod gehen werden. Erzähler Sprecher Fischermann An einem der nächsten Tage sind wir wieder mit dem Mietwagen unterwegs. Wir fahren in die Stadt, um ein paar Besorgungen zu machen. Madarejúwa hat sich ein Jeanshemd übergezogen und eine Baseballkappe aufgesetzt, wir passieren die verschiedenen Dörfer an der Straße. Wir kommen auch in Vila Nova vorbei, einem Dorf ganz am Rand des Reservats, wo Madarejúwa mir erklärt: An guten Tagen könne man hier mit einem Mobiltelefon Zugang zum Internet bekommen, einige der jungen Leute führen deshalb extra mit dem Bus dorthin. Ich frage ihn, wie er eigentlich leben will - künftig. Will er heiraten? Kinder? Over-Voice Madarejúwa Na, erstmal muss man wohl jemanden finden, den man mag. Und wenn man dann eine Familie gründen will: Dann macht man das. Over-Voice Fischermann Zum Heiraten gibt es klare Traditionsregeln bei den Tenharim. Willst Du Dich daran halten? Over-Voice Madarejúwa Ja. Wer zum Beispiel aus dem Clan der Wildhühner ist, also einer wie ich, der heiratet immer nur eine Frau aus dem Clan der Adler. Over-Voice Fischermann Und? Dann heiratest Du? Over-Voice Madarejúwa Nein, will ich noch nicht. Interessentinnen gibt es genug! Sie wollen immer ganz schnell heiraten. Aber ich will noch nicht. Es ist eine große Verantwortung, so eine Familie zu gründen! Ich muss erstmal wissen, was ich überhaupt will. Am liebsten würde ich erstmal noch die Schule ein bisschen weitermachen. Over-Voice Fischermann Also willst Du nicht nur ein Leben im Wald. Jagen, Arbeit auf dem Feld und im Kastanienhain ... Over-Voice Madarejúwa Ich mag das alles sehr. Over-Voice Fischermann Und die Frauen von heute, was erwarten die von einem Mann? Over-Voice Madarejúwa Die bleiben mehr im Haus, um sich darum zu kümmern. Wenn der Mann aus dem Wald zurückkommt und etwas gejagt hat, bereitet sie das Essen vor. Damit er essen kann. Aber manchmal legt der Mann auch einen Tag fest, an dem alle fischen gehen, die ganze Familie. Over-Voice Fischermann Aber manchmal wollen die Frauen auch in die Stadt. Um schöne Sachen einzukaufen. Over-Voice Madarejúwa Ich glaube, man soll nur in die Stadt fahren, wenn man zum Arzt muss. Over-Voice Fischermann Du suchst nach einer sehr traditionsbewussten Frau. Over-Voice Madarejúwa Ja. Ich hoffe, dass es so auch kommt. Sprecher Madarejúwa Text Ich kann eine Familie mit Essen ernähren. Einige sagen, es reicht schon aus, ein Jäger zu sein, jeder sieht das anders. Manche heiraten einfach und wohnen weiter bei den Eltern und bauen nach und nach ihr neues Haus. Doch ich glaube, wir Tenharim müssen uns auf zwei Dinge vorbereiten, auf ein Leben in unserer Kultur und ein Leben mit der sociedade. Ich bin ein Jäger, aber ich träume auch davon, Geld zu verdienen. Nochmal weiter zur Schule zu gehen, und später Geld zu verdienen. Zum Beispiel als Helfer in der Gesundheitsstation? Sprecher Madarejúwa Text Jetzt sind die Jäger alle da. Komm in die Dorfmitte, unser Fest wird heute in der oca sein. In das neue Rundhaus, das Tupajakuí gebaut hat, passen viele hundert Menschen hinein. Er hat gesagt: Es soll das prächtigste Grillfest werden, das die Tenharim je ausgerichtet haben. Die Weißen haben die Transamazônica durch unser Land gebaut, sie bedrohen uns und dringen in unsere Wälder ein. Sie haben unsere Anführer ins Gefängnis gesteckt. Doch unser Volk steht immer wieder auf. Beim Fest wird es heute auch eine Hochzeit geben. Die Tenharim heiraten, sie bekommen Kinder. Ein riesiger Fleischberg liegt auf dem Grill. Sechs Feuer brennen, um alles zu räuchern. Gleich beginnt der Tanz. Wenn ich Kinder habe, will ich das Beste für sie. Alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Meinem Sohn werde ich sagen: Du wirst in zwei Welten leben. Hier im Dorf und in der Stadt. Mein Sohn soll zur Schule gehen. Er soll lernen, dass er in der Welt der Weißen Rechte hat. Er soll immer wissen, wie er seine Rechte einfordern kann, bei der Regierung, den Behörden. Mein Sohn soll aber auch die Lieder und Geschichten meines Volkes lernen. Er soll wissen, was es heißt, ein Tenharim zu sein. Ich werde ihm zuerst die Geschichten über die Schlangen erzählen, damit er die Gefahren kennt und sich schützen lernt. Sprecher Topeí Nach der großen Flut, die die alte Welt untergehen ließ, überlebten auf der Erde zehn Menschen. Sie hatten sich in die Krone eines hohen Baumes geflüchtet, und als sie wieder herabstiegen, waren sie die ersten Tenharim. Fünf Männer und fünf Frauen hatten überlebt. Einige waren Söhne und Töchter Pyreapis, des Gottes im Himmel, ihr Wahrzeichen ist der mächtige Adler Taravé. Viele Heiler und Zauberer gingen aus ihrem Clan hervor. Der andere Clan waren die Kinder von Mbaira, dem Gott, der die Dinge der Erde ordnet, der Mann und Frau geschaffen hat und in den Steinen lebt. Aus ihnen wurden Häuptlinge, Jäger und Krieger. Gemeinsam begannen sie ein neues Leben. Madarejúwas Entscheidung - Vom Überleben im brasilianischen Regenwald Ein Feature Von Thomas Fischermann Es sprachen: Enno Kalisch, Jonas Baeck, Sebastian Schlemmer, Axel Gottschick, Hendrik Stickan, Anne Esser, Robert Oschatz und Rainer Homann Ton und Technik: Gunter Rose und Katrin Fidorra Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Tina Klopp Diese Sendung basiert auf den Recherchen für das Buch "Der letzte Herr des Waldes", von Thomas Fischermann und Madarejúwa Tenharim, erschienen im Verlag C.H.Beck. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019 30