Macron, Merkel und die EU

Neue Einigkeit zwischen Berlin und Paris?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) empfängt den französischen Präsidenten Emmanuel Macron am 15.05.2017 in Berlin.
Wie sehr kann Emmanuel Macron auf Unterstützung aus Berlin setzen? © Michael Kappeler/dpa
Ronja Kempin im Gespräch mit Annette Riedel · 10.06.2017
Wie weit soll Deutschland dem neuen französischen Präsidenten Macron entgegenkommen? Eurobonds blieben für die Deutschen eine rote Linie, sagt Ronja Kempin von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ein Euro-Finanzminister hingegen könnte die unterschiedlichen Sichtweisen "vereinheitlichen".
Deutschlandfunk Kultur: Es begrüßt Sie Annette Riedel. Unser Thema heute: eine wichtige Parlaments-Wahl – und zwar nicht die, die gerade in Großbritannien desaströs für die Tories und Premier Theresa May ausgegangen ist, sondern über die erste Runde der Parlamentswahlen in Frankreich, die morgen stattfindet.
Zu Gast bei Tacheles ist Dr. Ronja Kempin von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ihre Fachgebiete: unter anderem die deutsch-französischen Beziehungen. Könnten die Parlamentswahlen in Frankreich, Frau Kempin, schon das Ende aller Hoffnungen markieren, die sich für viele in Frankreich, in Deutschland, in Europa mit dem neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron verbinden – dann nämlich, wenn er keine ausreichende Parlaments-Mehrheit findet für das, was er politisch vorhat?
Ronja Kempin: Bislang sehen die Umfragen für Macron erstaunlich gut aus. Als er Anfang Mai zum Präsidenten gewählt wurde, hat, glaube ich, niemand, ich eingeschlossen, damit gerechnet, dass er auch nur annähernd eine parlamentarische Mehrheit in den Parlamentswahlen erringen könnte. Zur großen Überraschung sind seine ersten Schritte aber doch von den französischen Wählerinnen und Wählern sehr stark goutiert worden, so dass ich glaube, diese Hoffnungen doch weiter bestehen werden über den Tag des ersten Wahlgangs hinaus.

Sozialisten und Konservative werden taktieren

Deutschlandfunk Kultur: "La République en Marche" heißt seine neue Partei, sehr neu. Und es ist tatsächlich davon auszugehen oder besteht Anlass zur Vermutung, dass er für diese Bewegung, diese Partei inzwischen eine eigene Mehrheit bekommt oder dass er eine Mehrheit im Parlament findet, weil eben auch Konservative beispielsweise oder auch Sozialisten mit den Abgeordneten seiner Partei stimmen könnten?
Vor dem großen weißen beleuchteten Schild mit schwarzer Schrift in einem Flur sieht man die Silhouetten einer Frau und eines Mannes.
Eine Tafel mit dem Logo der französischen "En Marche"-Bewegung des Siegers der Präsidentenwahl, Emmanuel Macon, am 11.5.2017.© Olivier Lejeune / MAXPPP / dpa
Ronja Kempin: Beide Szenarien sind im Moment möglich. Das französische Wahlsystem ist etwas kompliziert. Nicht nur, dass die Franzosen in zwei Wahlgängen wählen, aber sie schließen eben bei der Parlamentswahl im zweiten Durchgang oft Allianzen, um den bestplatzierten Kandidaten dann auch in die Assemblée Nationale, in die französische Nationalversammlung, zu entsenden. Und hier taktieren Sozialisten und Konservative noch ein wenig. Da bleibt tatsächlich offen, wie jetzt die erste Runde ausgeht.
Und dann beginnt sozusagen die Arithmetik. Und diese beiden Parteien werden dann in kurzer Frist entscheiden, ob sie den Kandidaten, die Kandidatin von "La République en Marche" unterstützen und ihren eigenen Kandidaten aus dem Rennen nehmen.

Franzosen haben verstanden, dass Reformen nötig sind

Deutschlandfunk Kultur: Macron will Frankreich wirtschaftlich wieder auf Augenhöhe mit dem wichtigen und gewichtigen Partner Deutschland bringen. Arbeitsmarkt reformieren – da hat er schon die ersten Pläne vorgelegt. Bildungssystem reformieren tut wirklich not. – Trauen Sie ihm zu, dass er das kann, wenn er die nötige Mehrheit bekommt, was seine Vorgänger – sowohl der konservative Sarkozy als auch der Sozialist Hollande – nicht geschafft haben?
Ronja Kempin: Ich glaube, er hat einen großen Vorteil im Unterschied zu seinen Vorgängern. Das ist, dass – glaube ich – in der französischen Gesellschaft mittlerweile sich doch durchgesetzt hat: Okay, wir müssen jetzt wirklich reformieren. Wir müssen diesen Präsidenten, wenn er eine parlamentarische Mehrheit bekommt, tatsächlich die Chance geben, das Land wieder nach vorne zu bringen.
Deutschlandfunk Kultur: Auch um den Preis, dass wir selber Einbußen hinnehmen, Verluste hinnehmen müssen?
Ronja Kempin: Das ist mein Eindruck, dass sich genau an dem Punkt die Stimmung im Land im Moment dreht, wirklich wandelt – weg von diesem Beharrungsvermögen, das wir kennen, auch von der tiefen ideologischen Spaltung wirklich hin zu einer Bewegung, die eben auch Macron ja angestoßen hat: Lasst uns einmal gucken, wie wir diese Gräben zuschütten können und wie wir sowohl Arbeitnehmern als auch Arbeitgebern entgegenkommen können und eine Lösung finden, die uns sozusagen voranbringt und bei der wir uns nicht gegenseitig lähmen.

Die Erwartungen an Macron sind riesig

Deutschlandfunk Kultur: Aber besteht denn nicht die Gefahr - ich denke gerade an die Wahl von Obama als US-Präsident seinerzeit; da dachte man auch gerade in Europa, der kann über Wasser gehen - dass auch Macron, der neue französische Präsident, einer solchen Erwartungshaltung gegenüber steht, dass er das eigentlich kaum erfüllen kann?
Ronja Kempin: Die Erwartungen sind in der Tat natürlich riesig. Die Probleme des Landes sind ja auch gewaltig. Von daher ist das wenig überraschend.
Für mich stellt sich im Blick auf Macron eine Frage. Das ist die Frage, ob er in der Lage ist, das politische System - Sie deuteten das ja an - wirklich zu verändern. Macron hat in seinem Programm einige interessante Ideen, wie er im Zweifelsfall auch das Parlament umgehen könnte und per Dekret regiert.
Ob das die Macht der Straße durchbricht, das ist natürlich dann die große Frage. Aber zunächst erstmal hat er auch da eine gewisse Drohkulisse aufgebaut, die sagt: Leute, wenn ihr mir wirklich so viele Steine in den Weg legt, dann habe ich mir schon überlegt, wie auch ich um euch herum regieren kann. Und er unterstreicht da natürlich einmal mehr seinen unbedingten Willen, dieses Land, wie gesagt, wieder zu modernisieren und voranzutreiben.

Deutschland: Zahl- oder Zuchtmeister?

Deutschlandfunk Kultur: Frau Kempin, Sie sind leitende Wissenschaftlerin der Forschungsgruppe EU/ Europa bei der SWP. In Europa ist Frankreich mit Sicherheit der wichtigste Partner für Deutschland und umgekehrt, nach dem anstehenden Brexit wahrscheinlich noch mal mehr.
In den letzten Jahren hat es aber aufgrund der extrem unterschiedlichen Wirtschaftsstärke der beiden Länder ein Ungleichgewicht zwischen den Ländern gegeben. Das hat tiefgreifende Folgen für die gegenseitige Wahrnehmung von Franzosen und Deutschen: Die Deutschen empfinden sich als Zahlmeister Europas. Und die Franzosen empfinden die Deutschen als dominante Zuchtmeister, die sie mit strenger Haushaltspolitik eigentlich nur knechten wollen.
Frankreichs Probleme sind die, die Deutschland um die Jahrtausendwende selber auch hatte - der "kranke Mann in Europa" hieß es damals: hohe Arbeitslosigkeit, niedriges Wachstum, wachsende Verschuldung, abnehmende Wettbewerbsfähigkeit, überlastete Sozialsysteme. Das zu ändern ist Macrons, ist Frankreichs Aufgabe. Aber trägt Berlin eine Mitverantwortung?
Demonstranten werden mit Wasserwerfern vertrieben.
Proteste gegen das neue französische Arbeitsrecht im Juni 2016. Inzwischen sei in Frankreich das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Reformen gewachsen, meint Kempin. © picture-alliance / dpa / Ian Langsdon
Ronja Kempin: Die Probleme des Landes reichen weiter zurück als das deutsche Spardiktat, was im Rahmen der Finanz- und Schuldenkrise in der EU aufgebaut worden ist. Der französische Reformstau - Sie hatten es ja vorhin auch angedeutet - ist mindestens zehn, wenn nicht fünfzehn Jahre alt. Und unterschiedliche Präsidenten haben sich vergeblich daran abgearbeitet, eben den Reformstau ein wenig abzubauen.
Die deutsche Bundesregierung wird hier ein bisschen zu einfach in die Rolle des Schwarzen Peters geschoben von der französischen Seite. Macron ist da vielleicht auch ein Stück weit eine Ausnahme in Frankreich, denn er hatte im Wahlkampf auch immer wieder betont, wie nah er sich Deutschland fühlt. Er war der einzige Kandidat im Rennen um das Präsidentenamt, der nicht mit antideutscher Rhetorik versucht hat zu punkten – im Gegenteil. Er hat sich sehr stark ausgesprochen für die Flüchtlingspolitik, die Deutschland betrieben hat. Er hat eben auch gesagt: Nein, die Hausaufgaben müssen tatsächlich bei uns gemacht werden.

Frankreichs Schwäche schadet Deutschland und Europa

Deutschlandfunk Kultur: Und es ist trotzdem so, würden Sie sagen, dass es ein ungesundes wirtschaftliches Übergewicht gibt, was Deutschland zurzeit hat?
Ronja Kempin: Ich glaube, die Wahl Macrons ist natürlich insofern auch ein sehr gutes Signal auch an Berlin, europapolitisch gesprochen. Wir haben ja in der Tat gesehen, dass diese Augenhöhe zwischen Frankreich und Deutschland, die zunehmend verloren gegangen ist, je schwächer Frankreich geworden ist, Deutschland auch ein Stück weit allein zurückgelassen hat in Europa. Das hat niemanden gut getan. Das hat Deutschland nicht gut getan, aber das hat auch Europa und der europäischen Integration nicht gut getan.
Deutschlandfunk Kultur: Was kann Deutschland jetzt konkret tun, um aus diesem Ungleichgewicht rauszukommen?
Ronja Kempin: Zunächst erstmal wahrscheinlich wirklich warten, dass Macron nach den Parlamentswahlen viele erste Schritte einleitet. Aber wir haben auch schon, finde ich, unmittelbar nach der Wahl und den Antrittsbesuchen verschiedener französischer Minister hier in Berlin gesehen, dass die deutsche Seite auch gewillt ist, sich zu bewegen.

Eurobonds bleiben eine rote Linie

Deutschlandfunk Kultur: Also die gemeinsame Staatsfinanzierung …
Ronja Kempin: … genau, die Vergemeinschaftung von Schulden in der Eurozone bleibt eine rote Linie der deutschen Europapolitik. Weil, wenn es zum Beispiel um die Frage eines Eurozonenbudgets geht, um andere Fragen der Reform der Wirtschafts- und Währungsunion, da sehen wir, dass Berlin auch bereit ist, seine bisherige Position zugunsten Frankreichs aufzuweichen, ohne jetzt schon – und ich denke, das ist richtig – das Signal auszusenden, wir geben diesem Präsidenten alles, was er braucht, um erfolgreich zu werden.
Deutschlandfunk Kultur: Aber ist das tatsächlich so? Es gibt deutsch-französische Einigkeit, dass es Reformbedarf in der EU, aber gerade auch in der Eurozone gibt. Und es gibt auch gemeinsame Papiere, wo von einem Eurozonen-Finanzminister die Rede ist. – Aber verstehen Paris und Berlin das Gleiche darunter?
Ist es nicht vielmehr so, dass Berlin den Finanzminister der Eurozone als eine Art Oberkontrolleur, dass auch alle Regeln eingehalten werden, begreift und die Franzosen umgekehrt den Eurofinanzminister eher als einen Geldumverteilungsminister sehen, der mit einem eigenen Budget dafür sorgt, dass es einen Ausgleich zwischen den schwächeren und den stärkeren Euroländern gibt?
Ronja Kempin: Ich sehe das genauso wie Sie. Also, die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich haben Sie aus meiner Sicht sehr gut beschrieben. Eine der Weisheiten der Vergangenheit war immer, dass, wenn Deutschland und Frankreich, weil sie so unterschiedlich sind, einen Kompromiss finden, der tragfähig ist, von allen übrigen EU-Mitgliedsstaaten mitgetragen werden kann. Und ich denke, dass beispielsweise die Schaffung eines europäischen Finanzministers wahrscheinlich in der Tat diese beiden unterschiedlichen Sichtweisen ein Stück weit vereinheitlichen kann.
Denn wir brauchen beides: Wir dürfen nicht wieder zurückfallen in eine zu laxe Haushaltspolitik einzelner Mitgliedsstaaten, die uns ja zunächst erst mal in die Krise geführt hat. Aber eine starre Austeritätspolitik ist eben auch nicht mehr zeitgemäß. Wir sehen, dass Staaten wie Griechenland unter diesem Spardiktat eigentlich weiterhin mehr leiden, als dass die Wirtschaft des Landes in Fahrt kommt.

Sollte der wirtschaftlich Stärkere nachgeben?

Deutschlandfunk Kultur: Es gibt eine gemeinsame deutsch-französische Kommission. Die will schon bis Juli Vorschläge in diese Richtung erarbeiten. Wenn Sie sagen Kompromiss, dann wäre das natürlich die ideale, die schöne Variante: Beide kommen sich ein Stück entgegen.
Wenn das nicht funktioniert, muss es da nicht letztendlich doch darauf hinauslaufen, dass der Stärkere, der wirtschaftlich Stärkere, in diesem Falle Deutschland, nachgibt, um dem wirtschaftlich – zur Zeit zumindest – schwächeren Frankreich Luft zum Atmen zu geben und damit Macron die Chance, das, was er vorhat, tatsächlich umzusetzen und damit möglicherweise auch zum Besten Deutschlands, der EU, der Eurozone?
Ronja Kempin: Die Frage ist insofern schwierig zu beantworten bzw. sie deutet auf ein deutsches Dilemma hin. Deutschland hat in der Vergangenheit immer sehr stark auf Haushaltsdisziplin und auf Sparpolitik gedrängt. Und wir sehen, dass Länder wie Irland, wie Spanien, Portugal da sehr gute Erfolge erzielt haben. Dort boomt die Wirtschaft wieder. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Wachstumsraten sind höher als hierzulande, als in Deutschland.
Schäuble sitzt im Rollstuhl am Rednerpult und spricht. Er gestikuliert dabei mit der rechten Hand.
Kein Freund von Eurobonds: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU).© Wolfgang Kumm / dpa
Kommen wir also Macron und Frankreich zu stark entgegen, zementiert man wieder: In der EU sind manche gleicher als andere. Das heißt, europapolitisch wird das Verwerfungen möglicherweise nach sich ziehen, die eigentlich schlecht sind. Denn wir sind ja gerade in einer Phase, wo wir gemerkt haben, wir dürfen dieses europäische Haus nicht stärker einreißen. Die Fundamente sind ja sehr wacklig geworden. – Das ist sozusagen die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite der Medaille, darüber haben wir gerade gesprochen: Ein schwaches Frankreich ist natürlich schlecht für Deutschland und ist damit auch schlecht für die Europäische Union. Und in diesem Spannungsverhältnis befindet sich im Moment die deutsche Europapolitik. Sie ist da so ein bisschen gefangen zwischen diesen beiden Wegen, dass in der Tat, glaube ich, das Günstigste, was man aus Berlin jetzt machen kann, eben ist, zunächst erstmal es abzuwarten, was hat dieser Präsident vor und wie können wir ihn unterstützen, ohne aber die anderen Mitgliedsstaaten ein Stück weit vor den Kopf zu stoßen und zu sagen, Deutschland und Frankreich sind wichtiger als Spanien, Griechenland oder Irland.

"Der Brexit ist eine gewaltige Zäsur"

Deutschlandfunk Kultur: Hat die Tatsache, dass Paris und Berlin sich wieder anzunähern scheinen oder relativ auf einer Linie – mit Einschränkungen – sind, letztlich mit einem Mann zu tun, der nicht in Europa hockt, sondern in Washington, und der Donald Trump heißt, dass der letztendlich mit seinem Verhalten über diesen neuen Schulterschluss, wenn man von dem reden kann, zwischen Berlin und Paris sorgt?
Ronja Kempin: Ich glaube, es gibt unterschiedliche Faktoren, die allesamt – sowohl in Berlin als auch in Paris, glaube ich – das politische Bewusstsein geschärft haben, dass man aus dieser Krise, in der sich Europa, die Europäische Union befindet, herauskommen muss.
Mit Großbritannien hat ein Mitgliedsstaat zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Integration gesagt: Wir wollen diesen Prozess nicht weitergehen. Verabschieden wir uns. – Das ist natürlich eine Zäsur in der europäischen Geschichte, die gewaltig ist.
Wir sehen in der Nachbarschaft Krisen und Konflikte, die immer mehr zunehmen und immer näher auch an Europa herankommen, also den Staats- und Regierungschefs eben auch natürlich die Verantwortung auferlegen, für die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Und gerade in diesem Bereich kommt dann Trump sicherlich ins Spiel. Denn lange Zeit haben sich die Europäer ja mit Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf Washington, auf die USA, auf die Nato verlassen.

Trump und Brexit zwingen zum Schulterschluss

Deutschlandfunk Kultur: Gleich zu diesem speziellen Thema – militärisches, sicherheitspolitisches Umdenken möglicherweise in der EU – weiter. Ich möchte aber, sozusagen um den ersten Teil unseres Gesprächs abzuschließen, Sie fragen: Weil es Brexit geben wird, weil es Trump im Weißen Haus gibt - kann man sagen, dass die deutsch-französischen Beziehungen, wiewohl immer wichtig, aber selten so wichtig waren, vielleicht seit sechzig Jahren, seit den Römischen Verträgen nicht mehr, wie im Moment?
Ronja Kempin: Ich glaube auch. Also, Brexit und Trump spülen Deutschland und in Frankreich sozusagen ganz nach vorne in Europa. Und die Bedeutung des deutsch-französischen Tandems ist in der Tat heute so groß, und die Verantwortung natürlich auch, die jetzt auf beiden lastet, wie selten zuvor in der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses.
Wir sind in unterschiedlichen Politikfeldern an einen Scheideweg, dem berühmten, angelangt. Und Deutschland und Frankreich sind tatsächlich die einzigen großen Mitgliedsländer, die in der Lage sind, Europa so ein Stück weit aus dieser Krise herauszuführen und durch ihre Kompromissfähigkeit eben auch die anderen Mitgliedsstaaten an Bord zu holen und vielleicht Blockaden, die an der einen oder anderen Stelle existieren, eben zu überwinden. – Von daher: Ja. Ich glaube, Deutschland und Frankreich sind im Moment so wichtig wie selten zuvor.

Eigenständige EU-Verteidigungs- und Sicherheitspolitik

Deutschlandfunk Kultur: Frau Kempin, zu Ihren Fachgebieten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik gehören auch die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, über die wir jetzt reden wollen. Spätestens eben mit dem anstehenden Brexit, mit einem schwer berechenbaren Trump - Sie haben es eben schon gesagt, schwieriger Partner im Weißen Haus - aber auch mit einem Wladimir Putin, der kein einfacher Partner ist: Europa wird für seine Sicherheit und Verteidigung mehr tun müssen.
Da sind sich Paris und Berlin vollkommen einig. Die Bundeskanzlerin hat nochmal gesagt in diesen Tagen: Wir müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen. Bedeutet das, dass die EU notfalls auch in der Lage sein muss, sich selbst zu verteidigen?
Ronja Kempin: Ich denke, über kurz oder lang ja. Da wird kein Weg daran vorbeiführen. Wenn wir sagen, Europa wird eigenständig, selbstverantwortlich in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden, dann muss man immer dazu sagen, dass das nicht gegen die Nato gerichtet sein wird, sondern im Rahmen der Nato genauso gut wie im Rahmen der Europäischen Union stattfinden kann und wird. Aber es ist, glaube ich, unbenommen, dass Europa eben für die Probleme mindestens in seiner unmittelbaren Nachbarschaft selbst die Verantwortung wird übernehmen müssen.

Jahrzehntelang auf die USA verlassen

Deutschlandfunk Kultur: Aber das ist natürlich tatsächlich ein Paradigmenwechsel, weil diese EU vor sechzig Jahren, wir haben es gerade nochmal erwähnt, gegründet wurde als Friedensprojekt – Softpower, Friedensnobelpreis. Und jetzt sagen Sie, sagen viele, wir müssen härter werden, also nix soft, sondern militärische Fähigkeiten, sicherheitspolitisch selbständig werden, unabhängiger werden.
Ronja Kempin: Es ist ein Paradigmenwechsel. Das stimmt. Und ich glaube, der ist auch nicht von heute auf morgen zu machen. Und der sollte auch nicht von heute auf morgen geschehen.
Ich glaube, die Europäische Union hat, wie Sie gesagt haben, aufgrund ihrer Geschichte als Friedensprojekt, als Friedensmacht ja ganz viele Kompetenzen im nichtmilitärischen Bereich. Die bleiben glücklicherweise erhalten. Sie werden auch ausgebaut.
Aber was wir über lange Zeit vernachlässigt haben, ist tatsächlich eine sicherheits- und verteidigungspolitische Komponente. Da haben wir Glück gehabt zum einen, weil wir über lange Jahrzehnte in einem vergleichsweise friedlichen, stabilen Umfeld gelebt haben und weil wir uns eben über Jahrzehnte auf die USA verlassen konnten.
US-Präsident Trump bei seiner Ankunft in Newark. New Jersey, am 9. Juni 2017. Er verlässt gerade die Air Force One und schreitet die Gangway hinab.
US-Präsident Trump im Juni 2017© AFP PHOTO / MANDEL NGAN
Beide Parameter sind jetzt nicht mehr da. Die USA sind unzuverlässig unter Trump, aber haben sich, ehrlich gesagt, auch unter seinen Vorgängern ja schon immer ein wenig weg orientiert von Europa, von der Sicherheit dieses Kontinentes. Und dann haben wir eine Nachbarschaft, die zunehmend volatil ist: der Mittlere Osten, der sich in einem Auflösungsprozess befindet, Afrika, wo die Probleme gleich groß bleiben. Wir sehen, dass auch immer mehr Rückzugsmöglichkeiten für terroristische Organisationen entstehen.

"Wir müssen das in die eigene Hand nehmen"

All das erfordert auch von Europa ein Stück weit ein Erwachsenwerden. Denn es gibt niemanden, der für unsere Sicherheit mehr die Fürsorge auch trägt. Wir müssen das in die eigene Hand nehmen. Und wir haben die Chance, jetzt wieder, als Europäer genau zu definieren, was ist eigentlich Sicherheit und was ist auch verteidigungspolitisch…
Deutschlandfunk Kultur: Sie nennen es eine Chance?
Ronja Kempin: Ja, ich nenne es Chance…
Deutschlandfunk Kultur: … nicht Druck? Ist es gesunder Druck?
Ronja Kempin: Es ist natürlich ein Druck, den wir ein Stück weit selbst mit verantwortet haben, weil wir über die letzten Jahre im Prinzip über das Lippenbekenntnis zu mehr Sicherheitspolitik und mehr Integration in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht herausgekommen sind.
Aber ich glaube, die große Chance der Europäischen Union war immer auch eine alternative Sichtweise, alternativ zu den USA und zu den anderen Großmächten auch Sicherheits- und Verteidigungspolitik anzubieten und durch Integration eben zu zeigen, dass man letztendlich Rivalitäten überkommen kann und ein internationales Umfeld erzeugen kann, wo Krisen und Konflikte die Ausnahme und nicht die Regel sind.

Leicht verbesserter Status Quo reicht nicht aus

Deutschlandfunk Kultur: Deutschland und Frankreich haben gemeinsam ja schon vor einigen Monaten Anstöße gegeben für eine Entwicklung des militärischen Faktors in der EU. In einem scheint weitgehend Einigkeit zu sein, dass sich zumindest mal die Willigen unter den EU-Ländern stärker zusammentun, besser abstimmen, besser koordinieren, was militärische Fähigkeiten und Fertigkeiten und auch Material angeht.
Jetzt hat diese Woche die EU-Kommission ein Diskussionspapier zur Zukunft der europäischen Verteidigung vorgelegt mit drei möglichen Szenarien, wie sich die EU militärisch bis 2025 entwickeln kann.
Szenario 1, das am wenigsten ambitionierte: mehr kooperieren. Szenario 2: mehr teilen - und Szenario 3: tatsächlich eine gemeinsame Militär- und Sicherheitspolitik. Welche dieser drei Szenarien bis 2025 halten Sie für auch politisch realistisch?
Ronja Kempin: Als Analytikerin muss ich Ihnen sagen, ich bin skeptisch, ob wir über das Szenario 1 hinauskommen.
Deutschlandfunk Kultur: Also, weiter so, bisschen mehr abstimmen.
Ronja Kempin: Bisschen verbessern, genau, einen verbesserten Status quo, wenn Sie so wollen.
Als Bürgerin würde ich mir einen Übergang zwischen 2 und 3 wünschen. Denn als Bürgerin, aber auch als überzeugte Europäerin, muss ich natürlich sehen, dass wir wahnsinnig viel Geld für Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufwenden in den Mitgliedsstaaten, jeweils individuell, und dafür vergleichsweise wenig Schutz, wenig Fähigkeiten bekommen.
Deutschlandfunk Kultur: Wir geben deutlich mehr aus als Russland beispielsweise.
Ronja Kempin: Beispielsweise, genau. Also, die Zahlen sind tatsächlich sozusagen erschreckend. Die dokumentieren, wie ineffizient das jetzige System ist. Also, zum Beispiel geben wir halb so viel aus wie die Amerikaner für Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber wir bekommen nur ein Zehntel der Fähigkeiten der USA. Das sind natürlich erschreckende Zahlen, die darauf hindeuten, dass ein Weiter so im strikt nationalen Rahmen einfach ineffizient ist.

Mangelnde militärische Kooperation kostet Milliarden

Die Europäische Kommission beziffert die Kosten der Nichtintegration in dieser Sicherheits- und Verteidigungspolitik - und legt da unterschiedliche Bemessungen zugrunde - aber sagt: Es variiert jährlich zwischen 24 und 100 Milliarden Euro, die wir vergeblich ausgeben, sozusagen unsinnig ausgeben einfach dadurch, dass wir nicht zu mehr Koordination und Harmonisierung in diesem Politikfeld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommen.
Deutschlandfunk Kultur: Interessanterweise taucht in dem Diskussionspapier ein Begriff nicht mehr auf, der in den letzten Monaten durch die entsprechenden Publikationen gegeistert ist, nämlich der der Europäischen Armee. Das wäre ja dann auch schon ziemlich Szenario 3. Das realistischere ist aber wahrscheinlich, dass diejenigen, die das wollen – Deutschland und Frankreich machen es schon, auch die Niederländer, die Polen –, einfach mehr ihre Armeen zusammenführen, abstimmen aufeinander, von Einsatzbedingungen, die angeglichen werden, von gemeinsamen Übungen und Ähnliches. Europäische Armee kriegen wir sicherlich nicht in den nächsten Jahren.
Ronja Kempin: Ja, das ist sicherlich ein Szenario, das in vielen Mitgliedsstaaten nicht besonders verfangen hat.
Wenn wir über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Europäischen Union sprechen, dann dürfen wir eines nicht vergessen. Das ist das Themenfeld, was am wenigsten stark integriert ist oder am schlechtesten integriert und wo bis heute die Nationalstaaten im Prinzip die alleinige Verantwortung tragen. Wir nennen das intergouvernemental.
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und der österreichische Verteidigungsminister Gerald Klug (2.vl) am 28.07.2015 in Bamako (Mali) mit dem deutschen Brigadegeneral Franz Xaver Pfrengle (2.vr), der zum neuen Befehlshaber der EU-Ausbildungsmission in Mali (EUTM Mali) ernannt worden ist. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Bundesverteidigungsministerin von der Leyen, der österreichische Verteidigungsminister Klug und Brigadegeneral Pfrengle in Mali.© Picture Alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Das heißt, die Europäische Kommission und andere europäische Institutionen, das Europäische Parlament haben zum Beispiel nur ganz wenige Handlungsmöglichkeiten in diesem Politikfeld. Die Mitgliedsstaaten sind, wie man so schön auf Neudeutsch sagt, im driver's seat. Also, sie sind die entscheidenden Akteure. – Jetzt stellen Sie sich vor, Sie sitzen zu 28 an einem Tisch und Sie müssen sich auf etwas einigen. Das, was dabei herauskommt, ist natürlich immer nur der kleinste gemeinsame Nenner.
Und dieser kleinste gemeinsame Nenner steht ganz oft im Widerspruch zu den Herausforderungen. Also, wir können nicht adäquat auf terroristische Bedrohungen beispielsweise reagieren, weil wir dort in diesem Feld keine Kompetenzen, keine Souveränität abgegeben haben.
Wir können immer nur eine ganz kleine Anzahl an zivilen oder militärischen Experten in Auslandseinsätze verbringen, weil diese Planungen es nicht zulassen, weil die Streitkräfte – in der Fachsprache heißt das – nicht interoperabel sind, also oft gar nicht miteinander kommunizieren können, die Flugzeuge des anderen Landes nicht fliegen können, um da mal ein praktisches Beispiel zu nennen.
All das hindert uns natürlich, schnell auch in Bedrohungssituationen reagieren zu können.

Lissabon-Vertrag erlaubt intensivere Zusammenarbeit

Deutschlandfunk Kultur: Jetzt haben Sie schon gesagt, die EU soll keine zweite Nato werden. Sie soll nur innerhalb der Nato, die meisten EU-Länder sind ja auch Nato-Mitglieder, stärker werden.
Was in der Nato der Artikel 5 ist, der Beistandspakt - im Falle eines Angriffs auf eins ist das ein Angriff auf alle - ist der Artikel 42 der EU. Das wissen die meisten wahrscheinlich gar nicht, dass es auch da eine Art Beistandspakt gibt. Der ist sehr vage. Der ist eigentlich eher eine leere Hülse.
Muss man da auch rangehen? Muss man nicht nur die Fähigkeiten, ihn mit Leben zu erfüllen, sondern letztendlich auch die vertraglichen Bedingungen ändern?
Ronja Kempin: Da bin ich etwas zurückhaltender. Denn ich forsche und arbeite nun seit über zehn Jahren zu dieser, wie wir sagen, gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der GSVP - so ist die Abkürzung. Und was ich sehe, ist, dass die Strukturen alle da sind, die Rahmenbedingungen für eine verbesserte Zusammenarbeit in den Verträgen eigentlich angelegt sind, insbesondere im Vertrag von Lissabon, der ja jetzt der aktuelle EU-Vertrag ist.

Wille zur gemeinsamen Sicherheitspolitik fehlt

Was fehlt, ist eigentlich der politische Wille. Den können wir natürlich nicht herstellen durch Vertragsartikel. Deshalb versucht die Europäische Kommission sich jetzt einzuschalten. Sie haben auf das jüngste Papier der Europäischen Kommission zu Recht verwiesen. Die Europäische Kommission versucht jetzt, diesen politischen Willen ein Stück weit über finanzielle Anreize herzustellen und sagt: Wir belohnen euch Mitgliedsstaaten dafür, wenn ihr endlich das nationale Denken und Handeln überkommt, zusammenarbeitet, euch zusammenschließt. Zwei bis drei der Mitgliedsstaaten reichen schon. Und das belohnen wir …
Deutschlandfunk Kultur: …aus einem neuen Verteidigungsfonds…
Ronja Kempin: … aus diesem Fond, der jetzt aufgelegt wird. Und die Hoffnung ist, eben über Geld, wenn wir so wollen, mehr Synergien zu erzielen.
Es bleibt offen, ob dieser Weg gelingt. Aber ich muss leider auch sagen, dass die bisherigen Wege uns nicht sehr weit geführt haben und immer wieder daran gescheitert sind, dass – wie gesagt – Mitgliedsstaaten nicht den entsprechenden Willen aufbringen, hier gemeinsam voranzuschreiten.

Mehr Reformbereitschaft als vor einem Jahr

Deutschlandfunk Kultur: Wenn Sie sich das anschauen - die Beziehungen Berlin-Paris, die Entwicklungen bei der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik - sind Sie dann eher guten Mutes, was das europäische Projekt angeht, oder sehen Sie eher schwarz?
Ronja Kempin: Ich bin immer optimistisch als Person, aber in der Tat auch mit Blick jetzt auf die Europäische Union. Ich glaube, was die Situation heute unterscheidet von einem Gespräch, was wir vielleicht vor einem Jahr geführt hätten, ist, dass ich glaube, dass in einer Großzahl von EU-Mitgliedstaaten - nicht in allen, aber in einem Großteil der EU-Mitgliedsstaaten - die Erkenntnis gereift ist, dass wir so nicht weitermachen können, dass dieser Stillstand, eine Aversion auch gegen mehr Europa, gegen Reformen uns nicht voranbringt.
Das bringt uns wirtschaftlich nicht wahnsinnig voran. Es bringt uns aber auch auf der internationalen Ebene nicht voran.

Umdenken durch den Brexit

Und ich glaube, dass Brexit in vielen Mitgliedsländern doch nochmal zu einem Umdenken geführt hat und auch bei den Bürgerinnen und Bürgern den Mehrwert Europas noch einmal sehr viel stärker sichtbar gemacht hat. Ich glaube, diese Botschaft kommt auch in der Politik jetzt an. Auch politische Verantwortungsträgerinnen und -träger, die den Sündenbock für alles, was national nicht gut läuft, in Brüssel gesehen haben, dass die sich auch dahinter nicht mehr verstecken können, hinter so einem Brüssel-Bashing, ein Schimpfen auf die Europäische Union und dass jetzt doch viele bereit sind, den Hebel wieder umzulegen. – Das macht mich tatsächlich optimistisch.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
Ronja Kempin: Ich danke Ihnen.
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