Machtpolitik ohne Rücksicht auf Verluste

Von Michael Lüders · 04.05.2013
Der Bürgerkrieg in Syrien ist längst überlagert worden von einem Stellvertreterkrieg, in dem sich zwei Lager gegenüberstehen: Die USA und ihre Verbündeten sowie Iran, Russland und China. Beiden Seiten geht es allein um Machtpolitik, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, kommentiert Michael Lüders.
Es gibt keine einfachen Lösungen, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden. Vor zwei Jahren fing er an, zunächst als Aufstand ärmerer Sunniten gegen die Familiendiktatur von Baschar al-Assad, die vor allem von der religiösen Minderheit der Alawiten unterstützt wird. Längst allerdings ist er überlagert worden von einem Stellvertreterkrieg, in dem sich zwei Lager gegenüberstehen. Auf der einen Seite die USA und Westeuropa, flankiert von der Türkei und den Golfstaaten Saudi-Arabien und Katar. Vor allem Türken und Araber unterstützen die sunnitischen Aufständischen, auch militärisch und finanziell. Auf der anderen Seite stehen der Iran, Russland und China, die am Assad-Regime festhalten.

Beiden Seiten geht es allein um Machtpolitik, ohne Rücksicht auf Verluste in der syrischen Zivilbevölkerung. Die Regierung Assad ist seit der islamischen Revolution 1979 der engste Verbündete Teherans in der arabischen Welt. Das Kalkül der Assad-Gegner lautet: Nach dem Sturz des Diktators wird eine sunnitische Regierung in Damaskus an die Macht kommen, denn die meisten Syrer sind Sunniten. Diese Regierung wird – hoffentlich – pro-westlich und pro-saudisch ausgerichtet sein. Die privilegierten Beziehungen zum schiitischen Iran wären damit beendet, ebenso die Waffenlieferungen an die pro-iranische Hisbollah-Miliz im Libanon über syrische Flughäfen.

Alles hängt mit allem zusammen
Genau deswegen unterstützt der Iran weiterhin aktiv das Assad-Regime, ebenso wie Russland und China, die den westlichen und saudischen Einfluss in der Region begrenzt sehen wollen. Teheran teilt mit Moskau und Peking die Sorge, dass die USA und Israel über den Umweg Syrien einen Waffengang gegen die Islamische Republik anstreben könnten – mit dem Ziel eines Regimewechsels auch im Iran. Alles hängt mit allem zusammen: Man kann nicht über Syrien reden, ohne gleichzeitig den geopolitischen Kontext beim Namen zu nennen.

Seit Monaten streiten Europäer und Amerikaner, ob sie die syrische Opposition bewaffnen sollten. Bislang überwiegt die Zurückhaltung, aus gutem Grund. "Die" syrische Opposition gibt es nicht. Auf politischer Ebene ist sie heillos zerstritten, ihre im Ausland lebenden Führer haben in Syrien selbst nur einen geringen Rückhalt, wenn überhaupt. Diese Zerstrittenheit, die häufig ethnische und religiöse Motive hat, setzt sich auf militärischer Ebene fort. Die "Freie Syrische Armee", ursprünglich ein loser Zusammenschluss regionaler Milizen und desertierter Offiziere, ist zu schwach und zu unerfahren, um das Assad-Regime ernsthaft herausfordern, geschweige denn dessen Armee besiegen zu können.

Die einzige für das Regime gefährliche Miliz ist die sunnitische Nusrat-Front. Sie umfasst etwa 5000 geschulte und gut ausgerüstete Kämpfer, die überwiegend aus dem Irak stammen und eng mit Al-Kaida liiert sind. Genau aus diesem Grund zögern westliche Staaten, den Rebellen Waffen zu liefern. Das Risiko, dass sie in die falschen Hände fallen, nämlich in die der Nusrat-Front, erscheint ihnen zu hoch. Die Golfstaaten Saudi-Arabien und Katar glauben hingegen, sie kontrollieren zu können.

Die Nachbarländer werden in den Konflikt hineingezogen
Und als sei das alles nicht schon furchtbar genug für die Zivilbevölkerung, werden die Frontlinien in Syrien zunehmend unübersichtlich. Wer warum auf wen schießt – diese Frage stellt sich den Syrern täglich neu. Oft paktieren Regimesoldaten und/oder Rebellen mit gewöhnlichen Kriminellen, die etwa Menschen entführen, um Lösegeld zu erpressen.

Unterdessen werden vor allem der Libanon und Jordanien, aber auch die Türkei und der Irak mehr und mehr in den syrischen Bürgerkrieg hineingezogen. Je länger dieser Krieg andauert, umso größer wird die Gefahr eines Flächenbrands. Allein wegen der Flüchtlingszahlen: Der Libanon zählt gerade einmal sieben Millionen Einwohner, hat aber fast eine Million syrischer Flüchtlinge aufgenommen. Was also tun? Die unbefriedigende Antwort lautet: Den Flüchtlingen und den Aufnahmestaaten helfen und die USA und Russland bewegen, sich auf einen politischen Kompromiss zu verständigen.

Das aber wird kaum geschehen. Stattdessen denkt US-Verteidigungsminister Hagel laut darüber nach, "gemäßigte Rebellen", wer auch immer das sein mag, allen Vorbehalten zum Trotz mit Waffen zu beliefern. Dieser Gesinnungswandel verdankt sich dem bislang nicht bewiesenen Einsatz des Nervengiftes Sarin durch das Regime. Den Einsatz von Chemiewaffen hatte Präsident Obama als "rote Linie" bezeichnet, deren Überschreitung einen Militäreinsatz nach sich zöge. Erhoben wurde der Vorwurf eines Sarin-Einsatzes erstmals vor zwei Wochen, und zwar von israelischen Militärs.

Das dahinterstehende Kalkül beschrieb der Leitartikler Gideon Levy am Donnerstag in der israelischen Zeitung Haaretz wie folgt: "Die israelische Regierung will den US-Präsidenten bloßstellen und ihn zum Handeln zwingen. Vielleicht wird er nicht Syrien bombardieren, wie von Israel gefordert. Das macht aber nichts, denn es erhöht den Druck auf Obama, stattdessen den Iran ins Visier zu nehmen." Und das, so Gideon Levy, sei nach wie vor das erklärte Ziel der israelischen Regierung.
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