Macht das Internet dumm?

16.11.2010
Das Prinzip des Internets, alles mit allem zu verlinken, macht aus uns Usern "Laborratten", die permanent Informationshäppchen hinterherrennen und dabei ihr Gehirn dauerhaft zu schädigen drohen - so das Fazit des Technologiekritikers Nicolas Carr. Wirkliche Belege bleibt er jedoch schuldig.
Wenn es nach Nicholas Carr geht, stehen uns düstere Zeiten bevor. Verantwortlich dafür ist das Internet, denn es verändert die Art, wie wir lesen, nachhaltig. Da digital aufbereitete Texte in der Regel verlinkt sind – also Querverweise auf weiterführende Informationen enthalten – sei der Leser ständig damit beschäftigt, Entscheidungen zu fällen. Vertiefendes Lesen sei so nicht mehr möglich. Das Gehirn werde auf Oberflächlichkeit trainiert und das wiederum führe auf Dauer zur Rückbildung der Hirnregionen die für die gründliche Verarbeitung von Inhalten zuständig sind. Fazit: Die Menschen werden immer dümmer.

Schon 2008 hat Carr in seinem viel beachteten Essay "Is Google making us stupid?" diese These skizziert. Sein Buch ist der Versuch, diese These nun gründlich zu untermauern. Dafür geht der Netzkritiker in die Anfänge der Kulturgeschichte zurück, beruft sich auf verschiedene Denker – von Platon und Sokrates bis hin zu Marshall McLuhan und Joseph Weizenbaum – und zitiert Forschungsergebnisse. Das beeindruckt – allein für den Quellennachweis benötigt es 31 klein gedruckte Seiten – überzeugen kann Carr trotzdem nicht. Dem Buch mangelt es schlicht an Differenziertheit.

So unternimmt der Autor zwar eine Reise durch die Historie intellektueller Techniken – von der Schaffung des Alphabets bei den alten Griechen, über die ersten handgeschriebenen Bücher, die Entstehung der Kartografie bis hin zur Erfindung der Uhr und des Buchdrucks – aber all das dient letztlich nur der Bestätigung seiner eigenen These. Das Internet sei die erste Technik, die dem Menschen mehr schadet, als bereichert, so Carr. Anders als etwa das Buch, das Wissen einer breiten Masse zugänglich machte oder die Kartografie, die das abstrakte Denken vorantrieb, zeigt das Internet keinen dauerhaften intellektuellen Nutzen.

Schlimmer sogar: Unkonzentriertheit, Oberflächlichkeit, Gedächtnisschwäche – die Reizüberflutung durch das Internet sorge dafür, dass mühevoll über Jahrhunderte erworbene Kulturtechniken verloren gehen, weil unser Gehirn sich unter dem Einfluss des Netzes reorganisiert.

Das Ganze versucht Carr eindrucksvoll mit Studien zu belegen. Studien, die sich jedoch bei genauer Analyse als empirische Untersuchungen über das Leseverhalten im Internetzeitalter entpuppen und die nichts über einen Zusammenhang zwischen Hirnentwicklung und Internetnutzung aussagen. Das ist ärgerlich.

Aber es passt ins Bild: Seismographisch greift der Technologiekritiker Ängste auf, die in Teilen der Gesellschaft in Bezug auf das Internet existieren. Erfolgreich. Immer wieder gelingt es ihm, die akademische Welt mit aktuellen Alltagsphänomenen zu verbinden und so eine Art "Zeitdiagnose" zu erstellen. Nicholas Carr hat sich so in den letzten Jahren einen Ruf erworben, seine Meinung zählt.

Umso wünschenswerter wäre es gewesen, er würde differenzierter die Folgen der Internetnutzung beleuchten. So aber ist sein Buch nichts mehr als die ausgeschmückte Langversion seiner stets gleich lautenden These über die Verdummung durch das Internet. Das konnte man schon bei Schirrmacher lesen. Wirklich neues bleibt Carr schuldig.


Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange? - Wie das Internet unser Denken verändert
Übersetzt von Henning Dedekind
Blessing, München 2010
384 Seiten, 19,95 EUR
Cover " Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange?" von Nicholas Carr
Cover " Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange?" von Nicholas Carr© Blessing Verlag
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