Lyrische Zeitreise

15.05.2010
Fast 30 Jahre hat Wulf Kirsten seinen Plan einer Anthologie deutschsprachiger Dichter verfolgt. Herausgekommen ist ein lyrisches Kompendium, in dem auch die vergessenen und unbekannten Dichter ihren Platz neben den Großen wie Rilke und Trakl finden.
Eine Zeile aus Oskar Loerkes Gedicht "Die Laubwolke" von 1933 hat der Herausgeber Wulf Kirsten für den Titel seiner über tausendseitigen Lyrik-Anthologie gewählt: "Beständig ist das leicht Verletzliche". Aufgenommen hat der 1934 in der Nähe von Meißen geborene und in Weimar lebende Lyriker Gedichte, die zwischen 1880 und 1945 entstanden sind. Detlev von Liliencrons Gedicht "In Erinnerung" (1880) eröffnet die Sammlung, die in der Gesamtanlage auf Paul Celans Gedicht "Todesfuge" (1945) zuläuft, das den Abschluss der Anthologie bildet.

Erinnern, das machen diese beiden Gedichte deutlich, fungiert für dieses lyrische Lesebuch als eine Art Klammer. Von "Gräbern" und "Grüften" ist in Liliencrons Gedicht die Rede. Es endet mit der Zeile: "durch die Lüfte braust und graust ein Geierflug". Diese Verszeile korrespondiert mit Celans "der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Zwischen diesen beiden Gedichten liegt jene Zeit "wachsenden Entsetzens", auf die Werner Kraft im Gedicht "Die Dichterin" verweist. Der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, das Exil, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust bilden den Epochenhintergrund, vor dem die Gedichte der Anthologie entstanden sind. Doch sollen sie – nach dem Willen des Herausgebers – diese Zeit nicht illustrieren, sondern sie auf künstlerische Weise reflektieren.

Hat sich in diesem katastrophischen Zeitalter das "leicht Verletzliche" wirklich als beständig erwiesen? Immanuel Weissglas erinnert in seinem Gedicht "Das Massengrab" an die Zarten und leicht Verletzlichen, die unschuldig ermordet wurden. Er, der selbst Häftling in verschiedenen Vernichtungslagern war, greift, um Erinnerung zu stiften, auf das Gedicht zurück. Dem zarten sprachlichen Gebilde schreibt er die Zäsur des Holocaust ein.

Die Idee für diese Gedichtsammlung geht auf das Jahr 1981 zurück. Zu dieser Zeit arbeitete Wulf Kirsten als Lektor im Aufbau Verlag. Fast 30 Jahre hat er seinen ehrgeizigen Plan verfolgt, Gedichte von deutschen, österreichischen und Schweizer Dichtern in einer Anthologie zu vereinen. Den Grundstein dafür legte er bereits zwischen 1957 und 1964, als Kirsten "ständiger Leser in der Deutschen Bücherei in Leipzig" war.

Das Resultat dieser Jahrzehnte umfassenden Arbeit kann sich sehen lassen. Neben Autoren, die in diesem zeitlichen Rahmen zu erwarten waren – Georg Heym, Georg Trakl, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn oder Bertolt Brecht –, vereint dieses künftige Standardwerk der deutschsprachigen Lyrik auch Namen, die man in den einschlägigen Literaturgeschichten vergeblich sucht.

Wulf Kirsten hat sich der Vergessenen ebenso fürsorglich angenommen wie derer, die zum Lyrikkanon gehören. Dieses Miteinander von Stimmen, die sich zu einem lyrischen Chor vereinen, macht den Reiz der Sammlung aus. Zeit ist in die Gedichte nicht nur eingegangen, sondern die Gedichte haben der Zeit in aller nur möglichen Zartheit auch ihren "Versstempel" aufgedrückt. Mit dieser Anthologie liegt ein lyrisches Kompendium vor, in dem man sich verlieren kann. Es hält überraschende Entdeckungen für den bereit, der sich auf eine lyrische Zeitreise einlassen will.

Besprochen von Michael Opitz

Wulf Kirsten (Hg.): "Beständig ist das leicht Verletzliche", Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan
Ammann Verlag, Zürich 2010
1119 Seiten, 79,95 Euro.