Lyriksommer: Elisabeth Bishop

Die Dinge neu sehen

Das Tastaturfeld einer mechanischen Schreibmaschine
Bishops Dichtung scheut die großen Gesten. © picture alliance / dpa / Peter Steffen
Von Astrid Nettling · 21.08.2015
Elizabeth Bishop (1911-1979) ist eine der großen amerikanischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts und hierzulande doch immer noch so gut wie unbekannt. Ihr relativ schmales, aber kostbares Œuvre umfasst Gedichte, Erzählungen, Prosastücke sowie Übertragungen aus dem Portugiesischen und Spanischen.
Auszüge aus dem Manuskript der Sendung:
Aus einer Erzählung von Elizabeth Bishop:
"Ein Schrei, das Echo eines Schreis, hängt über dem Dorf in Neuschottland. Keiner hört ihn; für immer hängt er da, ein kleiner Fleck im reinen blauen Himmel. Der Schrei hängt einfach da, ungehört, in der Erinnerung – in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in den Jahren dazwischen. Sein Ton gäbe den Ton meines Dorfes. Schnipp mit dem Fingernagel gegen den Blitzableiter auf der Kirchturmspitze, dann hörst du ihn."
Ihr Dorf ist Great Village, ein winziges Nest an der Küste auf der kanadischen Halbinsel Neuschottland. Dort wächst sie auf, bei den Großeltern mütterlicherseits. Geboren ist sie in Massachusetts. Doch acht Monate nach ihrer Geburt stirbt unerwartet der Vater, ein Schicksalsschlag, von dem sich ihre Mutter selbst Jahre danach nicht mehr erholt.
Aus einer Erzählung von Elizabeth Bishop:
"Sie stand in dem großen vorderen Schlafzimmer, auf beiden Seiten schräge Wände, die mit breiten, weißen und goldschimmernden Streifen tapeziert waren. Später war sie es, die den Schrei ausstieß. Trotz der Ärzte, trotz der erschreckenden Kosten hatte es sich nicht gebessert. Ich darf nicht nach oben. Meine Großmutter sitzt in der Küche und weint. Wir warten auf einen Schrei. Aber er wird nicht noch einmal geschrien."
"Im Dorf" heißt die Erzählung, worin Elizabeth Bishop dieses frühe traumatische Kindheitserlebnis schildert. Sie ist inzwischen sechs. Bald darauf wird ihre Mutter in eine Nervenklinik eingewiesen, wo sie bis zu ihrem Tod bleibt. Als die Großeltern väterlicherseits ihre Enkelin zurück nach Massachusetts holen, bedeutet diese Trennung von den geliebten Eltern der Mutter, von Great Village und von Neuschottland das zweite traumatische Ereignis ihrer Kindheit.
Klaus Martens:
"Die Zusammenhänge, in denen wir uns alle bewegen, wenn wir Glück haben, nämlich in einer mehr oder weniger intakten Familie, einer intakten Nachbarschaft, einer bestimmten Landschaft, in der Sie aufwachsen, das alles ist Bishop nicht zuteil geworden. Sie war im Wesentlichen auf sich selbst zurückgeworfen und musste ihre eigenen Verbindungen spinnen von sehr früh ab."
"Eine der großen Modernistinnen"
Als unbeständig und wechselhaft ist der 1911 geborenen Dichterin früh die Welt erschienen – als "lose" nur gefügt, mit losen Rändern so lose wie die zwischen Land und Meer, der sich stets wandelnde Übergang zwischen dem Festen und dem Flüssigen, den sie schon als Kind fasziniert in Augenschein nimmt.
Aus einem Text von Elizabeth Bishop:
Das weite, grüne Marschland, so neu, so salzig, die weite Bucht mit Ebbe oder Flut in halber Höhe, der rote, nasse Schlick mit Himmelblau glasiert, bis dort, wo er an das kriechende, lavendelrote Wasser stößt.
Porträtfoto der US-amerikanischen Dichterin, Schriftstellerin und Pulitzer-Preis-Trägerin 1956, Elizabeth Bishop 
Die US-amerikanische Dichterin, Schriftstellerin und Pulitzer-Preis-Trägerin 1956, Elizabeth Bishop© imago / United Archives International
Klaus Martens.
"Neuschottland ist etwas ganz Eigenes, auch in dem Commonwealth, der ja Kanada ist mit seinen verschiedenen Provinzen. Es ist eine Landschaft, die stark durch Wasser dominiert ist, durch den kanadischen Schild, also, sehr, sehr felsig in seiner Ausprägung. Es ist ein amphibisches Land, genauso viel Wasser wie Land."
Klaus Martens, der Übersetzer von Bishop, Literaturwissenschaftler und Lyriker, Professor emeritus für Nordamerikanische Literatur und Kultur an der Universität des Saarlandes.
Klaus Martens:
"Eine leere Landschaft, die Meeresoberfläche, der Sand am Strand, die Marschen davor, das sind leere Landschaften, die zu beschreiben sind, die nicht direkt auf einen wirken, sondern die anregen, sie zu beschreiben, es sind Tafeln quasi, auf denen man schreiben kann, das ist das Wesentliche. Deshalb auch dieses Gedicht 'The Map', 'Die Karte'. Land und See, genau wie Landkarten und Seekarten, sind vor allen Dingen Projektionsflächen für unsere Imagination."
Gedicht von Elizabeth Bishop:
Land liegt in Wasser: es ist grün schattiert.
Schatten – oder ist es Wattenmeer? –
zeigen die lange Linie seegrasiger Riffe,
wo aus dem Grün der Tang dem schlichten Blau anhängt.
Oder lehnt sich das Land hinab, hebt auf die See von unten
und zieht sie unbewegt um sich herum?
Am Schelf entlang, braun und fein besandet,
zerrt da das Land am Meer, von unten?
Halbinseln nehmen das Wasser zwischen Daumen und Zeigefinger,
wie Frauen beim Befühlen von Meterware.
Kartengewässer sind ruhiger noch als das Land,
passen dem Land die Form ihrer Wellen an,
und Profile spüren der See nach, wo Land ist.
Teilt man sie zu oder wählen Länder ihre Farben?
– Wie's ihnen, wie's dem Wasser angemessen ist.
Topographie zieht keinen vor; Nord ist so nah wie West.
Zarter als bei Historikern sind der Kartographen Farben.
[...]
Klaus Martens:
"Man muss sie stellen neben Emily Dickinson im 19. und Marianne Moore im 20. Jahrhundert, eine der großen Modernistinnen. Andererseits ist sie bedeutsam für die feministische Bewegung unter den amerikanischen Lyrikern, wobei sie sich selbst ganz ausdrücklich nicht als solche bezeichnet hat und auch nicht als Dichterin, als 'poetess', angesehen werden wollte, sie wollte Dichter sein wie alle die Großen in ihrer Zunft."
[...]
Klaus Martens:
"Sie ist eine fast, wie soll ich sagen, fast wissenschaftlich genaue Naturbeobachterin, sie hat die Geduld und die Zeit, die viele Leute, auch Dichterkollegen, nicht haben, so genau hinzuschauen und so minuziös, aber auch korrekt vor allen Dingen zu beschreiben. Sie schreibt keine poetische Diktion, ihre Syntax wird immer eine alltägliche, eine gebräuchliche sein und aus dieser allgemeinen Verbindlichkeit heraus eine Magie herauszuoperieren einfach durch Selektion, durch Edition über Jahre so zusammenzuschreiben, dass der Grundstock bleibt und dann doch ein ganz neuer Schimmer, ein neuer Glanz hinzukommt, das konnten nur ganz wenige, und Bishop ist da eine der ganz Großen."
Immer wieder lernen, Verluste zu bewältigen
Kindheitserinnerungen, Reiseeindrücke, Alltägliches, Geographisches bilden den Stoff ihrer Dichtung, den sie sorgsam befühlt und betrachtet. Einem Kind ähnlich, dessen Blick neugierig, staunend an den für es noch unbefestigten Rändern der Welt umherschweift, frische Eindrücke sammelt, erste Einblicke gewinnt, bevor es erwachsen geworden diesen Blick für immer verliert.
[...]
Verluste zu bewältigen – das hat sie in ihrem Leben lernen müssen. Immer wieder. Denn "lose" ist für sie die Welt geblieben – "alles nur durch "und" und "und" verbunden" – so lose wie die zerreißbaren Fischernetze am Strand von Neuschottland. "Die Kunst des Verlierens ist nicht schwer zu meistern", lautet die wiederkehrende Zeile in ihrem späten Gedicht "Eine Kunst" – ein Desaster ist es jedesmal trotzdem.
Klaus Martens:
"Die Zeile, die wiederholt wird, ist eben die 'The art of losing isn't hard to master' und darauf reimt sich 'desaster', das heißt, ein furchtbar deprimierendes Gedicht, auch ein stark sarkastisches Gedicht. Es ist natürlich einmal wieder das Biographische, das alles habe ich verloren, Familie, Heimat, die eigene Existenz, aber dann eben auch in dem Gedicht die Reduktion des Textes, es hätte ja ein Riesenlamento sein können, die Reduktion des Textes auf das Notwendige, auf das Äußerste, sie hat wie in ihrem eigenen Leben auch in diesem Gedicht für ihre Lebensreise wenig Gepäck, sie wirft alles nach und nach von sich, keine Sentimentalität, kein Selbstmitleid, Sarkasmus ein wenig, aber das beschreibt auch die lyrische Methode – "stripping down", das Wesentlichste am Schreiben ist zu streichen, zu reduzieren, herauszunehmen, dass ganz am Ende eine Essenz zurückbleibt, die das ist, was man möchte, nämlich die Kunst – 'One Art'."
[...]
Zitat Elizabeth Bishop:
"Ich habe großen Respekt vor dem, was die Leute gewöhnliche Dinge nennen. Ich bin ausgesprochen visuell veranlagt und Elche und Tankstellen sind für mich nicht unbedingt Gemeinplätze. Ich versuche einfach, die Dinge neu zu sehen."
Ausdauernd und gewissenhaft hat Elizabeth Bishop die Dinge dieser Welt immer wieder neu gesehen und dabei "das Wenige, das auf Erden uns anvertraut ist" dichtend in etwas Kostbares verwandelt. In ein Werk – "klein, exquisit" – so meisterhaft wie unangestrengt.
Im Frühjahr 1979 fährt die 68-Jährige erneut nach Neuschottland, um an der Universität von Halifax die Ehrendoktorwürde entgegenzunehmen. Es ist ihre letzte Reise dorthin. Am 6. Oktober stirbt sie unerwartet in ihrer Wohnung an der Lewis Wharf an einer Gehirnblutung.
Aus dem Werk Elizabeth Bishops:
Leben und die Erinnerung daran, dunkel,
auf ein Stück glatten Karton gezwängt,
dunkel, aber wie lebendig, wie anrührend im Detail
– das Wenige, das wir umsonst bekommen,
das Wenige, das auf Erden uns anvertraut ist. Nicht viel.
Das gesamte Manuskript zur Sendung als PDF-Dokument oder im barrierefreien Textformat

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Vor drei Jahren ließ Deutschlandradio Kultur erstmals einen ganzen Monat lang über den Tag verstreut Gedichte ausstrahlen und über sie sprechen. Heute ist Lyrik en vogue und aus der Mitleidsecke heraus. Das ist die Gelegenheit, sich endlich ohne Nebengedanken, ohne Artenschutzsentiment den Gedichten selbst zuwenden und sie so wahrzunehmen wie seit Jahrhunderten die Prosa: kritisch und enthusiastisch. Daher sendet Deutschlandradio Kultur im August jeden Tag ein Gedicht, widmet sich die Lesart der Lyrik in Gesprächen, erkunden die Zeitfragen am Freitag um 19:30 Uhr und die Literatur am Sonntagmorgen um 0:05 Uhr lyrische Gefilde. Kooperationspartner ist lyrikline.org.

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