Syrische Dichtung im Exil

"Zwei Betten habe ich und schlafe dennoch im Stehen"

29:45 Minuten
Illustration von Köpfen, in denen Symbole für Musik und Texte zu sehen sind.
Songs übersetzen ist sehr viel schwieriger, als nur den Text in eine andere Sprache zu übertragen © imago / Ikon Images / Stuart Kinlough
Von Carsten Hueck · 05.08.2022
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Krieg, Flucht, Heimat- und Sprachlosigkeit gehören zu den Erfahrungen der Dichter und Dichterinnen, die in den vergangenen Jahren aus dem arabischsprachigen Raum nach Europa kamen. In ihrer Dichtung schreiben sie über Erinnerung und Neuanfang.
"Letztes Jahr, um nur ein Beispiel zu nennen, starb ein mit Flüchtlingen voll besetztes Boot an Herzinfarkt; als das erste Schiff den Unglücksort erreichte, war das Mittelmeer schon untergegangen. Man fand Wasser, das erstickt war; man fand Wellen, die klatschnass waren; man fand die Europäische Union, die versuchte, sich an ein Stück Holz aus den Überresten des Bootes zu klammern, um sich zu retten. Die Kinder fand man nicht. Jesus, der Sohn von Maria, war der einzige Überlebende. Sie fanden ihn, wie er über das Wasser lief."
"Évian" heißt dieses Gedicht des in Syrien geborenen Palästinensers Ghayath Almadhoun. Es beschreibt eine Katastrophe unserer Tage. Und versammelt dann gängige Vorurteile über Flüchtlinge durch Originalzitate aus Zeitungen sowie Interviews und offizielle Dokumente von 1938. Dem Jahr, in dem sich 32 Staaten auf der Konferenz von Évian trafen, um über die Krise jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und Österreich zu beraten.
Ghayath Almadhoun steht bei einer Lesung an einem Rednerpult.
Ghayath Almadhoun ist palästinensischer Syrer und lebt inzwischen in Berlin.© imago images / Gezett
Ghayath Almadhoun ist Lyriker und Filmemacher. Viele seiner Gedichte sind online zu hören, als musikalisch unterlegte Poetryfilme. Für "Évian" verwendet er ein Stück der Band "Einstürzende Neubauten". Sänger Blixa Bargeld war von Almadhouns erstem ins Deutsche übersetzten Gedichtband "Ein Raubtier namens Mittelmeer" so beeindruckt, dass er dem Autor sofort die Erlaubnis dazu gab.

"In meinem Kopf fallen die Bomben noch immer"

Ghayath Almadhoun wurde 1979 als Sohn eines Palästinensers und einer Syrerin in Yarmouk, einem palästinensischen Flüchtlingslager in Damaskus, geboren und wuchs als staatenloser Flüchtling auf.
2008 verließ er Syrien illegal. Er ließ sich einen Pass in Ramallah anfertigen und ihn nach Damaskus schmuggeln, dann bestach er die syrischen Behörden und gelangte so nach Schweden. Dort erhielt er nach einigen Jahren die schwedische Staatsbürgerschaft. Mit einem Stipendium kam er 2019 nach Berlin, wo er für länger leben möchte.
"Berlin war für mich immer etwas Besonderes", sagt er. "Aus mehreren Gründen: Meine Lieblingsstadt ist Damaskus. Ich bin da geboren, und das Assad-Regime hat Damaskus zerstört. In Berlin denke ich jedes Mal: Auch diese Stadt war total kaputt und wurde wiederaufgebaut. Sie gibt mir Hoffnung, dass wir auch Damaskus wiederaufbauen können."
Obwohl Ghayath Almadhoun, ein großer kräftiger Mann mit wachen, hellgrauen Augen, der sein dunkles, gelocktes Haar zum Zopf gebunden trägt, nun schon seit 14 Jahren im Exil lebt, ist die alte Heimat in seinen Gedichten stets präsent. "Der Krieg ist zu Ende, aber in meinem Kopf fallen die Bomben noch immer," heißt es in einem seiner Gedichte:

Der Krieg ist zu Ende, und die Toten sind wohlbehalten zu ihren Familien zurückgekehrt. Die Märtyrer kehrten im Ganzen zu ihren Müttern zurück, die Mütter kehrten nach Hause zurück, die Häuser, die Straßen, die Moscheen, die Augen, die Füße, die Körperteile kehrten zu ihren Besitzern zurück. Die Finger kehrten zu den Händen zurück, die Ringe zu den Fingern, die Schulen zu den Kindern. Die Wäscheleinen kehrten zu den Balkonen zurück, die Verliebten zu den Dächern, mein Bruder kehrte zu meiner Mutter zurück, und ich bin nach Damaskus zurückgekehrt.
Lebten wir in einer virtuellen Welt,
Würde ich den Krieg ausschalten wie du den Fernseher.
Aber wir wurden in einer Hurenwelt geboren,
Und wenn der Mensch in einer Hurenwelt geboren wird, verwandelt sich die Zeit in eine Schreibmaschine,
Und die Toten werden zu Gedichten.

Ghayath Almadhoun

Die Erinnerungen bleiben

"Wenn man in ein neues Land kommt, auch wenn man in Sicherheit ist, bleibt es dabei, dass man doch immer wieder in Gedanken an die alte Heimat abschweift, und dass man sich an die Vergangenheit erinnert," erzählt Widad Nabi. "Mir fällt auf, dass man im Rückblick immer nur an die angenehmen Dinge denkt. Dabei war ich in Aleppo in einer wirklich schlimmen Situation. Ich habe zum Teil an Selbstmord gedacht. Und trotzdem ist es jetzt so, dass ich mich immer nur an das Schöne in Syrien erinnere."
Widad Nabi sitzt bei einer Lesung auf einem Sofa und schaut in die Kamera.
Widad Nabi aus Nordsyrien gelangt mithilfe von Schleppern von der Türkei über die Ägäis und den Balkan nach Deutschland.© imago images / gezett
Widad Nabi wurde 1986 in Kobane an der nordsyrischen Grenze geboren. Eine kleine, attraktive Frau mit halblangen, dunklen Haaren und einem starken Selbstbewusstsein. Sie ist Kurdin, studierte in Aleppo Wirtschaftswissenschaften und veröffentlichte ihre Texte in arabischsprachigen Zeitungen und Magazinen. Einige erschienen auch in englischer und französischer Übersetzung. 2015 flieht sie vor Krieg, Zerstörung und der Bedrohung durch das Assad-Regime zunächst in das Nachbarland Türkei. Nach einem Jahr verlor sie die Hoffnung, wieder nach Syrien zurück zu können und beschloss, nach Deutschland zu gehen.
In einem ihrer Gedicht beschreibt sie ihre Situation im Exil:

Zwei Jahre nur,
und schon fließen die Spree und die Havel vom Norden zum Süden meines Herzens.
Dort, wo ich an ihren Ufern sitze, löst sich das Salz
der Flucht und der Ägäis von meiner hellbraunen Haut und meiner Erinnerung.
Das Leid, wie Flechten und Meeresalgen auf meinem Körper
und in meinen Augen gewachsen,
wird abgelöst
durch die Schönheit der Nachtfalterorchidee, die in den Berliner Straßen, Cafés und Buchläden blüht.

Widad Nabi

Kultur als Mittel gegen Rassismus

"Lesen war für mich tatsächlich immer eine Brücke zu anderen Kulturen und Literaturen, seien es französische, amerikanische oder deutsche," sagt Widad Nabi. "Und deswegen hatte ich vor meiner Ankunft in Deutschland sogar von Berlin eine relativ genaue Vorstellung. Tatsächlich ist es doch so, dass man eher Angst hat, wenn man von einer anderen Kultur und ihrer Kunst nichts weiß. Insofern könnte man sagen, dass Literatur, Kunst und Musik tatsächlich ein gutes Gegenmittel gegen Angst und Rassismus sind."
In Deutschland lebt Widad Nabi seit 2016. Schlepper brachten sie im Boot über die Ägäis, auf dem Landweg über den Balkan gelangte sie nach Berlin. Schnell bekommt sie Kontakt zur hiesigen Literaturszene. Ihre Gedichte werden in Anthologien veröffentlicht, sie schreibt für Zeitungen. 2019 erscheint ihr erster Lyrikband auf Deutsch: "Kurz vor dreißig…küss mich". Widad Nabis Themen sind die Liebe, die Suche nach Freiheit. Mit einer selbstbewussten, weiblichen Stimme erkundet sie ihre neue Lebenssituation, die Spannung zwischen Heimatlosigkeit und Zuhause, Trauer und Hoffnung.

Exil als Chance

Ihr Exil erlebt Widad Nabi ambivalent. Obwohl sie bereits sehr gut Deutsch spricht, fühlt sie sich in der neuen Sprache noch nicht sicher. Und die Verbindung zur alten Heimat ist vom Gefühl eines schmerzhaften Verlustes geprägt wie die Erinnerung an eine gescheiterte Liebe. Und doch ist die Autorin neugierig und offen für die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen. So empfindet sie das Leben im Exil als Bereicherung, als Chance, sich weiterzuentwickeln. Es ist für Widad Nabi nicht die Endstation einer Flucht, sondern ein Schritt auf dem Weg, den sie selbst eingeschlagen hat.
"Ich glaube, dass jeder Ortswechsel auch Einfluss hat auf die Art des Schreibens und vielleicht auch auf die Art des Denkens," sagt die Dichterin. Und dass der sprachliche Wechsel einen noch größeren Einfluss darauf habe als der geografische Wechsel. So stehe das Verb im Arabischen meist am Anfang des Satzes, während es im Deutschen häufig am Ende stehe. Das wirke sich auf das Denken und damit auf das Schreiben aus, findet sie und begrüßt das: "Beispielsweise benutze ich jetzt in meinen Gedichten weniger Metaphern als früher. Im Arabischen macht man das sehr gerne, aber hier ist die Sprache anders. Hier mache ich das jetzt weniger, und ich glaube, dass es gut ist. Denn wenn die Sprache eines Dichters sich gar nicht ändert, dann ändert er sich vielleicht auch selbst nicht."

Jedes Mal,
wenn du dich an eine alte Liebe erinnerst,
wächst Lavendel auf deinem Kissen.
Eines Morgens
Wirst du in einem Blumenfeld erwachen.

Zwischendurch ändere ich mein Profil durch ein Bild, wo ich lächle,
und erscheine wie eine glückliche Frau,
nicht wie das traurige Land,
aus dem ich stamme."

Widad Nabi

Ortswechsel inspirieren die Lyrik

Auch für Ghayath Almadhoun fügt der Ortswechsel dem Inhalt und der Form seiner Dichtung etwas Neues hinzu, wie er erzählt:
"Ich habe ein Land verlassen, in dem alles verboten ist, eine Diktatur. Ich hatte keine Papiere in diesem Land, keine Bewegungsfreiheit. Als ich mich in Schweden wiederfand, bekam ich einen Ausweis, eine Staatsbürgerschaft. Und das war entscheidend. Jetzt konnte ich reisen. Reisen sind für einen Dichter enorm wichtig. Das Reisen beeinflusst meine Lyrik am stärksten. Ich kann die Dinge aus unterschiedlichen Winkeln wahrnehmen. Ich kann sie beglaubigen."
Der 1987 in Saudi-Arabien geborene jemenitische Lyriker Galal Alahmadi hat das Exil ebenfalls als Erweiterung seiner künstlerischen Möglichkeiten erfahren. Er arbeitete als Journalist und Redakteur für verschiedene arabische Zeitungen und Magazine - im Irak, in Saudi-Arabien, in Jordanien. Zuletzt lebte er in Beirut, das er aus Sorge um die Zukunft und wegen der zunehmenden Einschränkung der Meinungsfreiheit verließ. Vier Gedichtbände auf Arabisch hat Galal Alahmadi veröffentlicht, er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Galal Alahmadi sitzt bei einer Lesung an einem Tisch mit Mikrofon.
Für Galal Alahmadi ist Deutschland ein Glücksfall, sagt er, obwohl er nie hinwollte.© imago images / gezett
Der feine, in sich gekehrte Mann gilt als bekanntester Dichter des Jemens. Er lebt seit 2016 in Deutschland und erzählt: "Europa war nicht mein Ziel und Deutschland auch nicht, obwohl mir Deutschland in meiner Vorstellung schon immer auch ein sympathischer Ort gewesen ist. Ich hatte ein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung und kam dadurch zufällig nach Deutschland. Und das erwies sich als Glücksfall - nach der Ankunft wusste ich einfach, dass das für mich das richtige Land ist. Für mich und für meine Frau Noor."
"Ich schlafe im Stehen" ist der Titel eines seiner Gedichte:

Zwei Betten habe ich und schlafe dennoch im Stehen!
Das habe ich gestern immer wieder vor mich hin gesagt und mir dabei die
Zigarette am falschen Ende angezündet.
Das heißt nicht unbedingt, dass etwas Schlimmes geschehen wird
aber es heißt ganz sicher, dass ich diesmal etwas Wichtiges verloren habe
die Zeit womöglich, in der ich eine Frau hätte zurückholen können
oder in der ich nicht im Stehen hätte schlafen müssen.

Wie leicht es ist, dich zu vergessen!
Heute
habe ich es tausendmal getan.
Und heute abend werde ich spät hierher zurückkommen und mir eine
Erinnerung am falschen Ende anzünden.
Und dann werde ich sagen, als würde ich dies soeben erst entdecken:
Ich habe zwei Betten!

Galal Alahmadi

Im Herbst 2020 sind im Secession Verlag neue Gedichte von Galal Alahmadi in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen: "Die Leere der Vase". Darin geht es viel darum, was Liebe sein kann und was Einsamkeit bedeutet.

Dichtung über Grenzen hinweg

Die Lyrik von Widad Nabi, Ghayath Almadhoun und Galal Alahmadi hat keinen festen Ort, sondern verbindet Themen und Motive über geographische und zeitliche Grenzen hinweg. Es ist eine Lyrik der Melancholie und Einsamkeit, gebrochen mit Ironie. Sie ist mal wütend oder tastend, verzagt oder provozierend, immer aber von großem Selbstbewusstsein bestimmt. Und sie geht weit über die Exilsituation hinaus.
"Ich habe alles, was ich mir wünsche," sagt Galal Alahmadi. "Dass ich hier mit meiner Familie lebe, dass ich normal leben und arbeiten kann, dass ich das machen kann, was ich möchte, auch mit anderen zusammen, das ist mir schon genug. Natürlich lebe ich hier in einer ganz neuen Umgebung, in einer anderen Kultur, wo andere Prinzipien und Grundsätze herrschen, ganz anders als das Chaos in den arabischen Ländern. Und trotzdem: Ich muss zugeben, die Vergangenheit ist mir präsenter als die Gegenwart. Aber ich habe hier Zeit. Und ich habe diese Zeit, weil ich mir nicht mehr so viele Sorgen machen muss um den Alltag und um die Zukunft wie früher. Deswegen kann ich jetzt an die Vergangenheit denken. Und ich denke andauernd an sie. Ich mache der Vergangenheit in meinen Gedanken sozusagen einen Prozess, aber ohne ein Urteil zu fällen. Die Vergangenheit bleibt mir so stets gegenwärtig."

Freiheit ist nicht selbstverständlich

Die drei Dichtenden leben in einer rechtlich gesicherten Situation. Das ermöglicht den freien Selbstausdruck und die künstlerische Entwicklung. Doch da alle die Erfahrung mitbringen, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist, reflektiert ihr Schreiben auch die Vergangenheit. Wie eine Umarmung, aus der man sich nicht lösen kann.
Widad Nabi findet, das Wort "Exil" passe vielleicht nicht ganz genau auf ihre Situation: "Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es früher für deutsche Schriftsteller gegolten hat, die während des Zweiten Weltkrieges aus Deutschland in andere Länder fliehen mussten. Einfach weil es heute sehr viel mehr Kommunikationsmittel gibt als damals. Wenn heute in Aleppo etwas geschieht, dann weiß ich das innerhalb von Stunden, sei es durch meinen Bruder, der mir über Whatsapp Nachrichten schickt, sei es über Facebook. Natürlich hat man, wenn man in der Fremde lebt, manchmal Sehnsucht. Oder wenn man mit Rassismus konfrontiert wird, wächst die Sorge, dass man hier doch nicht auf so festem Grund steht, wie man sich das erhofft - und dass einem vielleicht eines Tages gesagt werden könnte, das war‘s, wir brauchen dich nicht mehr, auf Wiedersehen. Das ist dann eine Art Exilgefühl."
Ghayath Almadhoun möchte mit seinen Gedichten provozieren: "Mit schwarzem Humor baue ich eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Man muss mit mir kein Mitleid haben, denn ich bin kein Opfer. Von der ersten Zeile an merkt man: Der Typ hier ist kein Opfer. Ich bin ein stolzer Reisender, ein Dichter, der das Leben genießt und schreibt, woran er glaubt."
(DW)
Dieser Beitrag ist eine Wiederholung vom 28.8.2020.

Mitwirkende: Katja Hensel, Tilmar Kuhn, Oliver Urbanski und der Autor
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal

Literatur:
Ghayath Almadhoun, Ein Raubtier namens Mittelmeer, Arche, 2018 (übers. von Larissa Bender)
Widad Nabi, Kurz vor dreißig,....küss mich, Sujet Verlag, 2019 (übers. von Suleman Taufiq)
Galal Al-Ahmadi, Die Leere der Vase, Secession, 2020 (übers. von Günther Orth)

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