Lyrikerin Dilek Mayatürk

Alles ist poetisch

05:32 Minuten
Eine schmale Frau mit dunklen langen Haaren in einem indigo-blauen Mantel. Der Kragen ist hochgeklappt. Sie steht in einem Park.
Die Erfahrung des Verlustes zieht sich als Leitmotiv durch Mayatürks Gedichte. © Metin Mayatürk
Von Étienne Roeder · 16.11.2020
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Die türkische Lyrikerin Dilek Mayatürk sucht immer nach dem einen, dem richtigen Wort. Nun sind Gedichte von ihr erstmals auf Deutsch erschienen. Eine Begegnung in Berlin-Kreuzberg.
Die Sonne scheint auf den Straßen von Berlin-Kreuzberg und lässt die gelben Blätter leuchten. Die Plätze sind gesäumt von Sonnenbadenden und unweit der rauchenden Hipster spielt eine Gruppe Männer Boule. Hier geht Dilek Mayatürk gern spazieren.
Seit eineinhalb Jahren lebt Dilek Mayatürk in Berlin. Davor längere Zeit in München, Sizilien und immer wieder in ihrer Heimatstadt Istanbul. Bereits Mitte der 90er-Jahre, als Zehnjährige, hatte sie dort begonnen, Deutsch zu lernen. Später studierte sie in Klagenfurt: "Ich habe gedacht, Deutsch ist sehr schwer, lass es mich jetzt lernen, wenn ich jung bin, wenn ich Kind bin."
Ihr deutsch-türkisches Wörterbuch trägt sie immer noch jeden Tag mit sich. Besonders hilfreich sei für sie, Lyrik zu lesen, sagt die zierliche Frau, die in ihrem makellosen Indigo-Samtmantel und mit roten Fingernägeln immer noch so weltläufig aussieht wie als BBC-Reporterin, die sie einst war. Seit ihrer Jugend träumte sie davon, im Ausland zu arbeiten, Dokumentarfilme zu drehen, immer unterwegs zu sein.

Temporeiche Arbeit als BBC-Reporterin

Dilek Mayatürks Auftreten heute steht im Kontrast zu dem, was man sich vorstellt, wenn man an ihre temporeiche Arbeit als Journalistin fürs Fernsehen oder eine Presseagentur denkt: Beim Reden setzt sie immer wieder neu an, sucht beharrlich nach dem einen, richtigen Wort und man versteht, wie wichtig ihr der akkurate Umgang mit Sprache ist.
"Denn ich kann mich nicht gut konzentrieren, wenn es viele Leute gibt, wenn es laut ist. Ich mag Stille."
Dilek Mayatürk wirkt nach außen fragil, fast schüchtern. Doch geht es um ihre Dichtung, ist sie hochdiszipliniert und streng gegen sich selbst. Für unser Treffen hat sie schon Tage vorher begonnen, früh ins Bett zu gehen. Um sich anzupassen. Denn normalerweise schreibt sie bis tief in die Nacht und steht erst spät auf. Ihren ersten Lyrikband veröffentlichte sie 2014 in der Türkei. Drei Jahre zuvor hatte sie für das Gedicht "Brief meines Großvaters" bereits einen Preis erhalten:

Wir haben ihnen von keinem Krieg auf der Welt berichtet.
Die Mächtigen können nach Lust und Laune ihre Hose öffnen
Und sich beim Blick auf den Globus einen runterholen,
Während das Elend der Armen wächst
"Wenn Krieg herrscht, steckt man den Kopf in den Sand",

Konnten wir ihnen natürlich nicht sagen, um die Zivilisation zu erklären
Dieses Wissen hätte sie nur noch kränker gemacht
Wesen so sensibel wie Vögel konte man das nicht zumuten.
Wir behielten es für uns.

Alle Türen, auf denen "Notausgang" steht, sind geschlossen.
Dabei besteht der einzige Notfall darin, zu fliehen
Die Türen müssen weit offen bleiben.


Bei meiner Geburt hefteten sie anstelle von Gold Amulette an meine Brust
Innen ein Arztrezept, auf der Rückseite ein Gebet
In der Handschrift meines Großvaters, dem ich nie begegnet bin:
"Ich werde Bambussprösslinge an den Wegen pflanzen
Wenn du flügge wirst,
Werden sie deine Größe haben
So wird dich niemand entdecken,
Wenn du ausreißt."

Bohrendes Gefühl des Verlassenseins

Die Gedichte im zweisprachigen Band "Brache" geben einen Überblick der lyrischen Arbeit Dilek Mayatürks in den letzten 16 Jahren. Vor allem aus den älteren Gedichten spricht ein bohrendes Gefühl des Verlassenseins.

Nach dir
Fielen mir im Schlaf stets die Zähne aus
Jeden Morgen wurde mein Gesicht frisch verknotet
Mit einem unsichtbaren Faden nähten sie meine Lippen zu
So verstummte ich dann eben.
Die Erfahrung des Verlustes zieht sich als Leitmotiv durch Mayatürks Gedichte. Eine schonungslose, weibliche Stimme berichtet hier von der Anstrengung, sich als Mädchen und als Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft Gehör zu verschaffen.
"Es ist ein bisschen schwer in der Türkei, deine eigene Entscheidungen zu treffen. Du musst immer kämpfen. Ich glaube, Tradition nennt man das. Als Frau eine Entscheidung zu treffen, ist immer schwer und kompliziert."
Oft ist kaum zu unterscheiden zwischen lyrischem und realem Ich, dann, wenn sie subtil oder ungeschminkt die eigene Zerrissenheit formuliert. So zum Beispiel, wenn sie die Scheibe im Besucherraum des Istanbuler Gefängnisses beschreibt, hinter der sie ihren Mann während seiner zwölfmonatigen Haft sitzen sah:
"Als ich vor dieser Trennscheibe gesessen habe, habe ich immer diese Fingerabdrücke beobachtet. Wissen Sie, alle sagen immer, dass alles politisch ist, aber ich denke manchmal, dass alles auch poetisch ist. Ich habe auf dieser Scheibe einfach ein Gedicht gesehen."

Starke und krasse Bilder

Mit ihren starken und mitunter krassen Bildern formuliert Dilek Mayatürk poetisch Kritik an einer überkommenen, patriarchalen Haltung gegenüber der Welt. "Brache" ist kraftvolle Anklage und zugleich die poetische Selbstermächtigung einer wachen und empfindsamen Lyrikerin.

Der Lyrikband " Brache", übersetzt von Achim Wagner, ist bei Hanser Berlin erschienen und kostet 20 Euro.

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