Lyrik

Wenn Blumen sprechen

Die deutsche Lyrikerin Silke Scheuermann, aufgenommen 2007 auf der Buchmesse in Leipzig.
Die deutsche Lyrikerin Silke Scheuermann, aufgenommen 2007 auf der Buchmesse in Leipzig. © picture alliance / dpa / Erwin Elsner
Von André Hatting · 13.08.2014
In ihrem fünften Gedichtband untersucht Silke Scheuermann die poetische Potenz ausgestorbener Tierarten, schreibt Gedichte aus der Perspektive der Blumen oder Lyrik auf bildende Kunst. Darin löst sie mit schlichten Worten unbeschreiblich Großes aus.
Bescheidener Titel, gewaltiges Programm: In ihrem fünften Gedichtband will Silke Scheuermann es wissen. Natur und Mensch, Flora und Fauna, Kunst und Künstlichkeit – die großen Fragen sind in der "Skizze vom Gras“ aber eben nicht flüchtig hingeworfen, hier wurden dicke Pinsel geschwungen.
Der Prolog "Die Ausgestorbenen“ malt das Bild einer nur noch erinnerten Pflanzenwelt, "die in den Konjunktiv gezogen“ ist. Es folgt mit "Zweite Schöpfung“ ein bedrückender Rundgang durch Dystopia. Scheuermann stellt ausgestorbene Arten (Wandertaube, Säbelzahntiger usw.) neben lebendige Kreaturen (Kaninchen und Bisons), prüft beide auf poetische Potenz. Die entfaltet sich so richtig aber nur im Gedicht "Uraniafalter“, eine gelungene Allegorie auf die Jugend. Die übrigen Vertreter leiden darunter, dass Scheuermann zu viel ätherisches Öl verspritzt:
"Wenn ein Gott trauert/bedeutet das,/ andere sind alleine, führungslos“ (Bison).
Nach dem Abstecher in die Fauna, lädt die Lyrikerin später zum Gartenspaziergang ein, Motto: "Pflanzen sehen dich an“. Das lyrische Ich schlüpft in die Perspektive der Blumen und Gewächse. Mal beschweren, mal erklären sie sich oder machen wie die Pollen klar, wie nah Mensch und Natur einander sind: "Als Kinder,/ die pubertierten, wart ihr mir ähnlich. /Immer ein wenig zu weich und zu weiß“ – ein origineller Vergleich, den Scheuermann gekonnt durchhält. Mit "Löwenzahn“, "Efeu“ oder dem "Hochsommer“ stehen hier einige der schönsten Exemplare des Gedichtbandes.
Kunstwerke als Inspiration für Gedichte
Der zweiten Natur, also der Menschen gemachten, widmet die 41-Jährige die Kapitel "Commedia dell’arte“ und "Helenas Traum“. Statt Flora und Fauna dienen hier darstellende und bildende Kunst – "Helena’s dream“ ist ein Gemälde der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas – als Inspiration für Gedichte. Leider sind die Referenzwerke nicht abgebildet, es lohnt sich, sie im Internet nachzuschlagen.
Wem dieses literarphilosophische Programm zu wuchtig-wichtig wirkt, vielleicht sogar etwas nach "professionellem Poetry-Posing“ riecht, wie es einmal in einer älteren Kritik zu Silke Scheuermann geheißen hat, der mache jetzt einen Cut: Buch nehmen, Seite 34 aufschlagen, lesen! "Schwerer Körper“, diese zwei Strophen auf eine Skulptur des britischen Bildhauers Henry Moore sind ein Meisterstück. "Ich teile die Welt durch zwei“ verkündet das Kunstwerk gleich in den ersten Worten. Aber der raffinierte Dualismus von beschriebenem Gegenstand (Metall und Luft), Gedichtform (zweistrophig) und Sprache (zweistimmig: trivial vs. philosophisch) zerteilt in Wahrheit nicht. Er verbindet: Gefühle, Gedanken, Generationen. Und wie die Autorin das ohne erhabene Geste macht, sondern mit schlichten Worten unbeschreiblich Großes auslöst, zeigt, wozu gute Lyrik fähig ist.
Dieses Gedicht reicht aus, um der Jury des Hölty-Preises für Lyrik zu ihrer Entscheidung zu gratulieren. Sie hat in diesem Jahr Silke Scheuermann ausgewählt.

Silke Scheuermann: Skizze vom Gras. Gedichte
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2014
104 Seiten, 18,95 Euro

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