Lyrik von Anna Maria Carpi

Existenzielles Alleinsein

Bücherstapel
Erst mit über fünfzig veröffentlichte Anna Maria Carpi ihre ersten Gedichte. © imago / JOKER
Von Maike Albath · 31.08.2015
Die Gedichte der Italienerin Anna Maria Carpi betören durch die Mischung von Alltäglichem und den großen Fragen des Daseins. Die Sammlung "Entweder bin ich unsterblich" gibt nun einen wunderbaren Einblick in ihr lyrisches Werk.
Anna Maria Carpis Gedichte besitzen etwas Blitzschnelles und Unmittelbares. Die Mailänder Lyrikerin und Übersetzerin, 1939 geboren und im Brotberuf jahrzehntelang Germanistikprofessorin, packt den Leser am Schopf und zieht ihn hinein in Alltagsgeschehnisse mitten in Mailand oder Venedig.
"Meine lieben Gedichte,/ so klein und arrogant,/ wie Geckos in einer Sommernacht,/ die Finger ausgebreitet, lauernd auf den Wänden", heißt es einmal, und der Vergleich mit dem huschenden Reptil passt zu ihrem Gestus der Plötzlichkeit. Man landet zum Beispiel am Mailänder Hauptbahnhof mitten unter den eiligen Pendlern und nimmt die elektrisierende Wirkung der fauchenden Espressomaschinen wahr.
Auch das weibliche lyrische Ich wird von dieser Stimmung getragen. Doch an der U-Bahn-Haltestelle auf dem Weg nach Hause kippt die Stimmung. "Mein Leben/ wie ein Fleck an der Wand", urteilt die Erzählerin und nimmt dann das große Thema der Einsamkeit auf, das ein Leitmotiv des Bandes ist. "Meine Nächsten waren die Unbekannten", umschreibt sie es hier.
Anna Maria Carpi wurde als Übersetzerin und Romanautorin bekannt
Um Nähe wird immer gerungen, was auch in mehreren Liebesgedichten zum Ausdruck kommt. Als Ursprung dieses existenziellen Alleinseins taucht in einem der prägnantesten Gedichte die Mutter auf: "Hab nie in ihrem Schoß geschlafen./ Sie war ein Zugvogel mit gestutzten Flügeln".
"Entweder bin ich unsterblich" lautet der Titel der von Piero Salabé mit absichtsloser Eleganz übersetzten und klug komponierten Gedichtsammlung, die einen wunderbaren Einblick in das lyrische Werk Carpis vermittelt. In Italien ist Anna Maria Carpi als Übersetzerin von Celan, Rilke, Benn, Heiner Müller und Durs Grünbein bekannt geworden, außerdem als kenntnisreiche Sachbuchautorin und Verfasserin mehrerer Romane, die zum Teil auch auf Deutsch vorliegen. Erst mit über fünfzig veröffentlichte Carpi 1993 Gedichte, und seither zählt sie mit Patrizia Cavalli zu den Repräsentantinnen einer erzählerischen Linie, die an Umberto Saba anknüpft und typisch für die italienische Lyrik des späten 20. Jahrhunderts ist.
Carpis Gedichte betören durch die Mischung von Alltäglichem und den großen Fragen des Daseins. Auf lapidare Feststellungen folgen poetische Vergleiche. Man webt "Teppiche des Ewigen" oder klammert sich an das "glühende Gitter des Glücks". "Die Wüste des Windes" zieht von Zimmer zu Zimmer in einem Haus, das versteigert werden soll. Carpis Gedichte können ebenso gut einen Supermarkt als Schauplatz haben wie einen Flughafen oder ein Eisenbahnabteil.
"ich will/ träumen können, / dass hinter diesem Meer eine andere Welt beginnt"
Häufig bergen die Gedichte kleine Geschichten, wenn zum Beispiel im Halbschlaf ein Gespräch mit einer Ikone geführt wird, die mahnend nach den Überzeugungen der Dösenden fragt. Ein anderes Mal ist von dem venezianischen Wirt Lino die Rede, der nichts als Arbeit kannte und sich nun zum Sterben in das Zimmer über seinem Lokal gelegt hat. Altern und Tod bilden einen weiteren basso continuo der Texte. Aber es gibt einen Gegenimpuls, denn das, was das Ich auszeichnet, ist seine Sehnsucht:
"ich will/ träumen können, / dass hinter diesem Meer eine andere Welt beginnt,/ wie Kolumbus, der dies träumte,/ und dann hinfuhr/ und alles genauso fand." Damit benennt sie eine Eigenart des Dichtens überhaupt: Jenseits des sichtbaren Horizonts nach etwas anderem zu suchen.

Anna Maria Carpi, Entweder bin ich unsterblich. Gedichte
Aus dem Italienischen übersetzt von Piero Salabè
Carl Hanser Verlag, München 2015
155 Seiten, 15,90 Euro