Lynchmord in Afghanistan

"Die Polizei hat tatenlos zugesehen"

Ein pakistanischer Muslim liest den Koran während des Fastenmonats Ramadan in Peshawar.
Der Koran, die heilige Schrift der Muslims © picture alliance / dpa / Bilawal Arbab
Thomas Ruttig im Gespräch mit Miriam Rossius · 21.03.2015
Eine aufgebrachte Menschenmenge hat eine Frau vor einer Moschee in Kabul zu Tode geprügelt. Auslöser war das falsche Gerücht, sie habe einen Koran verbrannt. Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig wirft der Polizei schwere Verfehlungen vor.
Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig hat der afghanischen Polizei im Falle des Lynchmords an einer psychisch kranken Frau in Kabul Mitschuld vorgeworfen.
"Die Polizei hätte den Mord verhindern können", sagte der Co-Direktor des Afghanistan Analysts Networks (ANN). Internetvideos zeigten, dass die Polizisten tatenlos daneben gestanden hätten, als die Frau vor einer Moschee in Kabul mit Steinen und Stöcken zu Tode geprügelt wurde, sie hätten sich indirekt mit der Menge sogar solidarisiert. Ein Polizeisprecher habe im Nachhinein sogar die Tat als Akt zur Verteidigung des Islams gerechtfertigt, erklärte der Mitbegründer des ANN, einer unabhängigen Rechercheorganisation mit Sitz in Berlin und Kabul.
"Islam heißt ja nicht, dass man Leute totschlagen darf"
Das Statement des afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani wertete Ruttig dagegen als angemessen und richtig. Ghani habe die Tat entschieden verurteilt und auf die religiösen Werte aber auch die menschenrechtlichen Aspekte hingewiesen sowie eine Untersuchung angekündigt. "Er hat das ziemlich deutlich gesagt, dass niemand Lynchjustiz ausführen und sich über das Gesetz stellen kann. (...) Islam heißt ja nicht, dass man Leute totschlagen kann." Auch in den sozialen Medien sei die Tat verurteilt und der jungen Frau sei am Tatort mit Kerzen gedacht worden.
Ein Amulett - in Windeseile zum Koran aufgebauscht
Der Fall zeige, wie schnell Gewalt selbst in afghanischen Großstädten aufkommen könne, sagte Ruttig weiter. Es habe sich ja nur um ein Gerücht gehandelt, dass die junge Frau einen Koran in Brand gesteckt habe. Mittlerweile sei durch das Religionsministerium bestätigt, dass es dafür aber keine Anzeichen gegeben habe. Bestätigt sei vielmehr, dass die Frau tatsächlich geistig krank gewesen sei und aus diesem Grund auch bei einem Mullah Zuflucht gesucht habe. Dieser habe ihr nach gängiger Landespraxis ein Amulett verschrieben, um sie zu heilen. "Sie hat gemerkt, es hat nichts geholfen. Dieses Ding hat sie dann angezündet und es hat sich in Windeseile als Gerücht dann zum Koran aufgebauscht, was dann tatsächlich ein Verbrechen wäre."
Mangelnder Aufbau funktionierender staatlicher Institutionen
Der internationale Einsatz in Afghanistan habe für die Sicherheit im Land wenig gebracht, bilanzierte Ruttig. Der militärische Einsatz im Krieg gegen die Taliban und Al-Kaida habe Vorrang vor dem Aufbau funktionierender staatlicher Institutionen gehabt, "zu denen dann auch Polizei und Gerichte gehören würden, wie wir im Fall dieses Lynchmordes gesehen haben." Insbesondere der Polizei sei im weitern Verlauf der Untersuchung zu misstrauen, auch wenn der Druck aus Teilen der afghanischen Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft nach einer Untersuchung und Verurteilung der Täter groß sei.

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Miriam Rossius: Eine Frau wird von einer wütenden Menge zu Tode geprügelt, der Mob zündet ihre Leiche an und wirft sie in den Fluss. So ist es in Kabul passiert vor einer Moschee. Dort hat die Frau angeblich einen Koran verbrannt. Ihre Eltern sagen, sie sei psychisch krank gewesen. Wahrscheinlich haben Sie von diesem Lynchmord gestern in den Nachrichten gehört, wir wollen den Fall jetzt noch einmal aufgreifen. Dafür bin ich mit Thomas Ruttig verbunden, Kodirektor der unabhängigen Recherche-Organisation Afghanistan Analysts Network. Einen guten Morgen nach Kabul!
Thomas Ruttig: Ja, guten Morgen, Frau Rossius!
Rossius: Es heißt, Hunderte Menschen, vielleicht sogar Tausende hätten sich an der Moschee versammelt und dann der Gewalt freien Lauf gelassen. Wie kann das sein, wieso konnte die Polizei den Mord nicht verhindern?
Ruttig: Die Polizei hätte diesen Mord verhindern können, sie war vor Ort. Und Videos, die einige der Teilnehmer, der Beobachter dieses schrecklichen Vorfalls aufgenommen haben, zeigen, dass die Polizisten tatenlos daneben gestanden haben und nichts getan haben, das heißt also, dass sie sich indirekt mit der Menge solidarisiert haben. Allerdings muss man sagen, dass einige Leute, darunter wohl auch Polizisten, versucht haben, die Frau noch zu retten, aber sich gegen die wütende Menge, gegen den wütenden Mob nicht durchsetzen konnten.
Rossius: Das, was Sie beschreiben, klingt so, als sei dieser Lynchmord ein Zeichen für, ja, sagen wir, eine grundsätzliche, eine alltägliche Verrohung der Gesellschaft. Ist das so?
Ruttig: Ja, das ist schon eine Spitze, also ein besonderer Fall, so was haben wir hier, glaube ich ... Ich kann mich nicht erinnern, seit Langem nicht erlebt. Auf der anderen Seite ist Afghanistan durch 35 Jahre von Krieg, Bürgerkriegen, Fraktionskriegen gegangen, in der es unsägliche Gewalt und Brutalität gegeben hat. Und das bleibt natürlich auch nicht ohne Auswirkung auf die Psyche der Afghanen. Es gibt Untersuchungen, die sagen, dass ungefähr 80 bis 90 Prozent aller Afghanen in diesen 35 Jahren durch die Gewalt traumatisiert worden sind, ist auch kein Wunder, es gibt ja kaum eine Familie, die nicht irgendwelche Opfer zu beklagen hätte, Folter, Verschwinden-Lassen, Mord und Totschlag waren in diesen 35 Jahren an der Tagesordnung und sind ja auch noch nicht zu Ende. Auf der anderen Seite muss man sich tatsächlich wundern, dass halt auch Leute in städtischen Gebieten, denen man ja eine etwas stärker fortschrittliche Haltung zuschreibt, sich so verhalten zu haben. Aber da scheint eben auch der Mob-Charakter sich durchgesetzt zu haben, wo Leute dann zu Mitläufern werden. Man muss aber auch sagen, dass es Verurteilungen gegeben hat, in den sozialen Medien ging es sofort los, gestern Abend sind ein paar junge Leute, Künstler auch aus Kabul an die Stelle dieses Mordes gegangen und haben dort Kerzen angezündet und der jungen Frau gedacht, es gibt eine Kampagne, ihr wenigstens in Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und auch der Präsident Aschraf Ghani hat das entschieden verurteilt und hat eine Untersuchung angesagt.
Rossius: Er hat aber auch gesagt, seine Regierung schütze islamische Werte und Recht sprechen könnten nur die Gerichte. Was ist denn das für ein Statement? Das klingt jetzt nicht wirklich so, als würde er sich auf die Seite des Opfers stellen.
Ruttig: Nein, das finde ich nicht. Er hat das ziemlich deutlich gesagt, dass niemand Lynchjustiz durchführen kann und sich über das Gesetz stellen kann. Der Islam ist die Religion von über 99 Prozent der hiesigen Bevölkerung, dessen Werte müssen auch geschützt werden, die stehen in der Verfassung. Islam heißt ja nicht, dass man Leute totschlagen kann. Lassen Sie uns vielleicht auch noch mal kurz auf den Fall selbst zurückgehen ...
Rossius: Ja, gerne.
Ruttig: Es zeigt eben auch, wie volatil diese Menge ist in Afghanistan. Es war ja nur ein Gerücht, dass die Frau einen Koran in Brand gesteckt hatte. Das Religionsministerium, was dann die zuständige Autorität wäre, hat hinterher gesagt, es gibt überhaupt keine Anzeichen dafür, sie war tatsächlich geistig krank, hat dann auch bei einem Mullah Zuflucht gesucht, der hat ihr ein Amulett verschrieben, das ist hier auch eine gängige Praxis, um sie zu heilen, sie hat gemerkt, das hat nichts geholfen. Dieses Ding hat sie dann angezündet und das hat sich dann sozusagen in Windeseile als ein Gerücht dann zu einem Koran aufgebauscht, was dann hier tatsächlich ein Verbrechen wäre. Wir hatten ja auch schon Demonstrationen gegen Koranverbrennungen, als ein radikaler Pfarrer in den USA solche Sachen durchgeführt hat, da gab es hier gewalttätige Ausschreitungen. Da liegen dann die Nerven blank. Aber dieser Fall ist natürlich durch überhaupt nichts zu entschuldigen. Und ich finde eigentlich das Statement von Präsident Ghani, der sowohl eben auf die hiesigen religiösen Werte eingeht, aber auch auf menschenrechtliche Aspekte in seiner Erklärung, dann durchaus angemessen und richtig.
Rossius: Sie gehen also davon aus, dass der Fall vor Gericht kommt? Es gab ja gestern bereits einige Festnahmen.
Ruttig: Es gab gestern einige Festnahmen, da war ein junger Mann darunter, der Fotos auf Facebook gepostet hat und gesagt hat, er hat sich an dieser Sache beteiligt. Allerdings weiß man in Afghanistan halt auch nie, wenn die Polizei jemand verhaftet, ob das wirklich die Richtigen sind, häufig werden Geständnisse aus Leuten herausgeprügelt. Bei dem einen scheint ja der Fall relativ klar zu liegen, wie das mit den anderen ist, kann man schwer beurteilen. Und die Polizei, wie gesagt, die eben zu großen Teilen auch gar nicht eingegriffen hat – ein Polizeisprecher hat sich gestern dann gestern sogar vor die Menge gestellt und hat gesagt, ja, das ist ein Akt zur Verteidigung des Islam gewesen –, denen kann man natürlich nicht trauen und auch den Gerichten in Afghanistan nicht. Häufig werden Leute freigekauft und ich könnte mir in diesem Fall auch vorstellen, dass einige einflussreiche Leute, die sich hier gerne zur Verteidigern des Islam aufspielen, sich da einmischen könnten. Die Gerichte sind eben selber auch nicht unabhängig. Aber wichtig ist, dass es erst mal vor Gericht landet. Und ich glaube, der Druck ist auch groß genug aus Teilen der afghanischen Öffentlichkeit und internationalen Gemeinschaft, dass Präsident Ghani das nicht so leicht durchgehen lassen kann.
Rossius: Gestern wurde nicht nur dieser Fall von Lynchmord bekannt, sondern es wurden auch die Kosten des Afghanistan-Einsatzes öffentlich: 8,8 Milliarden Euro, der teuerste Auslandseinsatz, den die Bundeswehr je hatte. Wie viel hat das unterm Strich gebracht für die Sicherheit im Land?
Ruttig: Für die Sicherheit im Land hat das relativ wenig gebracht, der Krieg ist ja nicht beendet worden, wie das am Anfang der ISAF-Mission, die Ende letzten Jahres zu Ende ging, eigentlich das Ziel gewesen ist, sondern der Krieg hat sich im Land eher ausgebreitet. Ich will nicht sagen, dass all diese Kosten, die da aufgewendet worden sind, umsonst waren, es haben sich schon Lebensbedingungen für Teile der Bevölkerung geändert. Die Frage ist, ob das alles nachhaltig ist. Und vor allem, also, die Kriegsfrage bleibt natürlich offen, der Krieg ist eher eskaliert worden, aber das ist eher eine politische Frage gewesen, da man halt die Bekämpfung der Taliban und von Al Kaida, die man auch beide unzulässigerweise in einen Topf geworfen hat, dann priorisiert hat über Wiederaufbau, über den Aufbau funktionierender Institutionen, zu denen dann eben auch die Polizei und Gerichte gehören würden, die, wie wir in diesem Fall dieses Lynchmordes sehen, eben doch nicht funktionieren.
Rossius: Thomas Ruttig war das, haben sie herzlichen Dank!
Ruttig: Ja, gerne, Wiederhören!
Rossius: Wir bitten, die nicht ganz so dolle Verbindungsqualität zu entschuldigen, Thomas Ruttig war in Kabul, er ist dort Kodirektor der unabhängigen Recherche-Organisation Afghanistan Analysts Network.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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