LyLü, Lyrik in Lübeck

Von Wiglaf Droste · 15.04.2005
Hui, das wird ein Fest für Deutschlehrer: Günter Grass, der dichtende Sozialdemokrat, hat zwei richtige Schriftsteller eingeladen, Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf. Gemeinsam machen die drei heute Abend LyLü - Lyrik in Lübeck. Warum?
Wenn eine Stadt sich zu Lebzeiten von Günter Grass ein Günter-Grass-Haus aufzwängen lässt, hat sie hinterher keine Wahl und muss jeden Wind ventlilieren, den Grass an die Luft setzt. Und so erfüllt die Grass'sche Schwerbedeutsamkeit am heutigen 15. April die Lübecker Musikhochschule. Grass spricht, wie immer, verquollenes Deutsch. Wo andere schlicht "Nein" sagen, macht Grass eine Predigt daraus und lässt es wabern: "Dem sei mein Nein vor die Schwelle gelegt." Seine "Rättin" eröffnete er ebenso zeremonienhaft aufgedonnert: "Auf Weihnachten wünschte ich eine Ratte mir." Sein Leben lang hat Grass auftakeln und schreiben miteinander verwechselt, der Betrieb hat ihm applaudiert, und jetzt, mit 77, ist er zu alt, um es noch zu lernen.

Im Spätsommer 2003 veröffentlichte Grass den Band "Letzte Tänze". Seine Zeichnungen ließen die Blindenhunde knurren, und die Texte darin wurden fälschlich als Gedichte ausgegeben, doppelt falsch sogar als erotische Gedichte. Eins der Teile heißt "Ein Wunder" und geht wörtlich und ungekürzt so: "Soeben noch schlaff und abgenutzt / Nach soviel Jahren Gebrauch, / Steht Er / - Was Wunder! / Er steht -, / Will von dir, mir und dir bestaunt sein, / Verlästert und nützlich zugleich."

Früher traf Günter Grass den Free-Jazz-Schlagzeuger Günter "Baby" Sommer; Grass las, Sommer klapperte. Das war schon scheußlich genug, aber verglichen mit dem halbsteifen Gipfeltreffen zwischen Grass und seinem Schwanz doch eine erfreuliche Begegnung. Grass aber, von Greisengeilheit ganz aus dem Häuschen getrieben, legt das Rohr noch weiter vor. Ein besonders krudes Gestammel aus "Letzte Tänze" trägt den Titel "Schamlos" - ich zitiere wiederum wörtlich und ungekürzt: "Wie Tiere / Leckten wir uns / Und fanden später - / Satt und matt - / Mit selbiger Zunge / Zivil geordnete Wörter, / Einander die Welt zu erklären: / Den Anstieg der Benzinpreise, / Die Mängel im Rentensystem, / Das Unbegreifliche / Der letzten Beethoven-Quartette."

Günter Grass, das ist Literatur als Strafe, als Rache an der Schönheit der Welt, an der er nicht teilhat - Altpapier schon vor dem Druck. Wie kann man über etwas so Schönes so eklig schreiben? Marcel Reich-Ranicki kumpelte in der FAZ: "Er ist der Dichter unserer Generation." Hätte es noch eines letzten Beweises bedurft dafür, dass Reich-Ranicki sich für nichts weniger interessiert als für Literatur, und dass er von nichts weniger versteht als eben genau davon, seine Eselei über Grass wäre dieser Beweis gewesen. Er empfinde "Dankbarkeit für die Gedichte von Günter Grass", beteuerte Reich-Ranicki - von dem der altersmeise Eröffnungssatz seiner Rezension bleiben wird: "Wir sind mit ihm alt geworden, wir sind mit ihm jung geblieben." Wenn einer sich mit weit über 80 Jahren selbst das Seniorenbeschwichtigungslätzchen "jung geblieben" umbindet, dann ist das unzweifelhaft das Ende. Dann ist im Kopfe Schlussi / Wir gratulieren: Bussi!

Zurück zu LyLü, zurück zu Günter Grass. 1956, vor 50 Jahren, debütierte er mit dem Gedichtband "Die Vorzüge der Windhühner". Im Titel war schon der ganze Grass angelegt, diese Mischung aus Andeutungsgeraune, Angeberei und Gelalle. Dass aber Grass den eigentlich zwingenden Nachfolgetitel "Die Nachteile der Sturmhauben" niemals hat folgen lassen, löst wirklich Dankbarkeit aus, und die Spätfolgen des Grass'schen Gebarens werden andere tragen müssen: In 50 Jahren wird wieder ein aufgeblasener Mann herumsitzen und LyLü verbreiten, eine Lyrik, die als Stoffwechselkrankeit junger Männer begann und nichts dazulernte. Dabei gibt es doch wirklich schöne Gedichte.

38 Jahre nach ihrer letzten gemeinsamen Lesung sind Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf wieder gemeinsam in einer Bütt - der Literaturbetriebskarriereklüngel "Gruppe 47" ersteht noch einmal auf, und das Lübecker Publikum verströmt den Hauch von 4711.