Lutz Seiler: "Stern 111"

Die Wende als Zeit lustvoller Anarchie

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Coverbild von Lutz Seilers Roman "Stern 111"
Mehr als ein bloßer Zeitroman, sagt unser Kritiker Helmut Böttinger über Lutz Seilers "Stern 111". © Suhrkamp / Deutschlandradio
Von Helmut Böttiger · 04.03.2020
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Dass die Wendezeit auch ein Experimentierfeld war, zeigt Lutz Seiler in seinem Roman „Stern 111“. Da bricht ein Ehepaar Mitte 50 alle Zelte in Gera ab und verschwindet gen Westen. Den zurückgelassenen Sohn treibt es derweil in den Ostberliner Underground.
Jetzt, wo der Fall der Mauer 30 Jahre zurückliegt und fast schon Geschichte geworden ist, scheint er langsam erst literaturfähig zu werden.
Man merkt Lutz Seilers Roman an, dass in ihm die Erfahrungen dieser Wende ganz neue Formen angenommen haben. Er ist eine literarische Durchdringung jener Phase, als die DDR zwar noch formal existierte, die Grenzen aber bereits geöffnet waren – eine Zeit lustvoller Anarchie, aber auch der Verunsicherung, eine Zeit der Freiheit und der Eroberung neuer Räume, aber auch der Desorientierung und Ungewissheit.
Dieses Experimentierfeld ist schon damals als ein Übergang empfunden worden, von einer starren Vergangenheit in eine unklare, aber auf jeden Fall ähnlich starre Zukunft.

Wechsel in Gesellschaft und Familie

Übergänge kennzeichnen diesen Roman deshalb in vielerlei Hinsicht. Die Hauptfigur Carl erlebt nicht nur den Wechsel des Gesellschaftssystems, sondern auch einen abrupten Wechsel der Verhältnisse in seiner Familie. Vor allem aber sucht er nach einem poetischen Dasein, und dieses Spiel mit der Romantik und den damit verbundenen Schwellensituationen gehört zu den zentralen Motiven des Romans.
Porträt von Lutz Seiler vor schwarzem Hintergrund.
Der Schriftsteller Lutz Seiler gewann 2014 den Deutschen Buchpreis mit seinem Roman "Kruso".© Getty Images / Thomas Lohnes
Bestechend ist nicht nur die atmosphärisch eindringliche Schilderung der Hauptfigur Carl, sondern auch die geheimnisvolle Wendung in der Biografie seiner Eltern. Sie brechen auf einen Schlag mit ihrem bisherigen Leben und beginnen eine völlig neue Existenz, fliehen – es ist ja noch nicht völlig klar, ob die Grenzen wirklich offen bleiben werden – in den Westen und lassen ihren Sohn Carl in Gera zurück.

Von Gera in den Ostberliner Underground

Diese Perspektive ist bisher in der deutschen Gegenwartsliteratur noch nicht eingenommen worden: ein DDR-Ehepaar um die 50, das direkt nach dem Fall der Mauer die Chance ergreift, den bisherigen Alltag vollkommen hinter sich zu lassen und voller Risiko im Westen neu zu starten. Was sie als leicht auszubeutende Arbeitskräfte in Westdeutschland erleben, ist ohne Klischees beschrieben, hautnah und überaus sinnlich und überraschend.
Sinnlich – so kann man die Sprache Lutz Seilers auch insgesamt charakterisieren. Das Leben Carls, als er aus Gera aufbricht und in die Underground-Szene Ostberlins gerät, ist in seiner existenziellen Wurzellosigkeit mit vielen literarischen Anspielungen versehen.
Carl findet Kontakt zu einem "klugen Rudel" um den charismatischen Helden Hoffi, der wie eine Erlöserfigur erscheint, als ein nahezu biblisch anmutender Märtyrer. Die Kellerkneipe "Assel" die real existiert hat, entwickelt eine spezifische Aura.

Wiedersehen mit Kruso

Seiler webt Motive und Figuren aus früheren Texten in den neuen Roman ein – ein hochartifizielles Verweissystem, das zum einen an Uwe Johnson erinnert, zum anderen an die Sprach- und Bilderkraft Wolfgang Hilbigs anschließt. Das Handwerk, überhaupt der Abgesang auf das mechanische Zeitalter, spielen eine große Rolle, und dass der Künstler das Handwerk auf höchster Stufe fortführt, bildet einen vieldeutigen Subtext.
Der Autor nimmt auch seine frühere Titelfigur Kruso aus dem Roman von 2014 wieder auf, und wie sich Kruso verändert hat, ist von hoher politischer Symbolkraft. Dies ist mehr als ein bloßer Zeitroman. Er verdichtet eine Epoche und zitiert auf höchst eigenständige Weise die großen Bewusstseinspanoramen der Moderne und der Ostmoderne.

Lutz Seiler: "Stern 111"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
521 Seiten, 24 Euro

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