Lust des Körpers, Freuden des Geistes

28.09.2011
Im Nachlass des französischen Schriftstellers Julien Green fand sich der Roman "Der Unbekannte", den Green im Alter von 96 Jahren geschrieben hat. Der Inhalt: Ein älterer Mann bieten einem Studenten Reichtum, Reisen und Frauen - für dessen Jugend.
Der französische Schriftsteller Julien Green, Sohn amerikanischer Eltern, starb 1998 in seiner Geburtsstadt Paris. Da war er so alt wie das zu Ende gehende Jahrhundert und konnte auf ein Roman- und Tagebuch-Werk zurückblicken (nicht zu vergessen die Erzählungen, Essays und Dramen), das in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht.

Hatte er mit seinen Erstlingsromanen bereits André Gide, Harry Graf Kessler, Rainer Maria Rilke und seinen Übersetzer Walter Benjamin beeindruckt, so ließ seine Schaffenskraft auch im hohen Alter nicht nach.

Solche Einschätzung mag beruhigend-museal klingen, doch ist hier eher vom Gegenteil die Rede: Bis zum Tod des tiefgläubigen Katholiken war der Stachel präsent, der sich in religiöser Terminologie wohl als "Körper versus Geist" und "Fleisch kontra Seele" beschreiben ließe. Der jeglichen literarischen Moden abholde Gentleman Green war nämlich homosexuell - und transferierte das Vibrierende eines ebenso diskret wie (zumindest in den Jugendtagen, wie seine Autobiografie belegt) ausschweifend gelebten Eros in eine berückende, aber auch beklemmende Romanwelt.

Deren Protagonisten waren zumeist heterosexuell, doch das zumeist tragisch endende Sehnen all der französischen Kleinbürger-Frauen oder amerikanischen Campus-Studenten verleugnete nicht die Gestimmtheit ihres Autors.

Und das buchstäblich bis zum Ende seines Lebens: Der jetzt auf deutsch veröffentlichte Roman "Der Unbekannte" fand sich vor einigen Jahren in Julien Greens Nachlass - ein Greis mit der Neugier eines jungen Mannes hatte ihn mit 96 Jahren geschrieben. Erzählt wird - was Wunder - die Geschichte des verbummelten Studenten Vivien, der im noblen 7. Arrondissement von Paris Opfer eines Tagtraums wird. Darin bietet ihm ein älterer Mann Reichtum, Reisen und Frauen - im Gegenzug möchte er dessen Jugend besitzen.

Man meint das Sujet bereits von Chamisso und Oscar Wilde her zu kennen - und ist gerade deshalb verblüfft. Denn nichts Epigonales, verschwitzt Altväterliches oder pathetisch Patinahaftes eignet dieser Geschichte, in der die Welt - von Paris geht's geschwind nach New York und auf die von betrügerischen Bankern (sic!) frequentierten Bahamas - mit den Augen einer staunenden Jugend betrachtet wird.

Und doch steht am Ende das Aufwachen, wenngleich - eigentlich atypisch für Greens Geschichten - dieses kein verzweifelt-bitteres ist, sondern eher die Ermutigung, die wunderbaren Herausforderungen der Realwelt nicht für die billigen Glaskugeln narzisstischer Gespinste herzugeben.

Wer das Glück hatte, den ebenso noblen wie unprätentiösen Jahrhundertzeugen Julien Green in seinen letzten Jahren zu treffen - eben dort, wo auch der junge Vivien flanierte: Zwischen Rue Vaneau und Rue de Varenne - wird sich an einen freundlichen alten Herrn im satinroten Morgenmantel erinnern, der so inspiriert über Thomas Mann und Ernst Robert Curtius sprach wie über die Erlebnisse seiner Familie im amerikanischen Bürgerkrieg von 1861. Dass er in eben dieser Zeit noch die Kraft fand für einen letzten Roman, wie alle seine Bücher gänzlich frei von grämlicher Didaktik, ist keine geringe Überraschung, ja beinahe so etwas wie ein Wunder. Man tut also gut daran, den "Unbekannten" mit jener höheren Heiterkeit der Seele zu lesen, mit welcher er wahrscheinlich auch geschrieben wurde.

Besprochen von Marko Martin

Julien Green: Der Unbekannte
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München 2011
95 Seiten, 12,90 Euro

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