Lust am Verriss

18.05.2007
Mit Witz und teils bissiger Häme schreibt Norman Lebrecht über die Anfänge und Entwicklung der Plattenfirmen im Klassikbereich sowie deren momentaner Krise. Da es sich um subjektiv-polemische Einlassungen handelt, sollte man nicht so sehr auf ihren Erkenntnisgewinn achten, sondern auf ihren Unterhaltungswert. Und der ist enorm.
Norman Lebrecht steht, wie schon in seinem "Mythos vom Maestro", in der Tradition des angloamerikanischen Kulturjournalismus. Das heißt: Unterhaltsamkeit steht obenan, was bissige Seitenhiebe, Spekulationen und gelegentliche Ausflüge in die Klatsch- und Tratschkiste einschließt. Der Autor, obschon erst 1948 geboren, erzählt nicht nur so, als sei er bereits bei der Pressung der ersten Schellackplatten dabei gewesen, sondern bleibt bis zur letzten Seite amüsant, anekdotenreich und dabei fast durchweg zugespitzt personalisiert.

Traditionsverwurzelte deutsche Oberstudienräte mag ein solches Herangehen, auch wenn es durch reiches Quellenmaterial abgesichert ist, verschrecken und vielleicht sogar abstoßen; da liegen, so scheint es, Sensationshascherei und Rosstäuscherei in der Luft bzw. zwischen den Buchdeckeln - und das um so mehr, als es um die hehren Güter des klassischen Musikerbes geht.

Offen gesagt: Sie tun es wirklich, aber man kann das Buch trotzdem mit großem Vergnügen lesen. Nur darf man es nicht als "Weisheit letzter Instanz" und endgültiges, unwiderrufliches Urteil über eine letztlich doch sehr komplexe Materie nehmen, sondern als subjektiv-polemischen Erfahrungsbericht von einem, der zwar nicht von Anfang an, aber doch schon einige Jahrzehnte dabei ist und dabei eine Menge jener Akteure, über die er schreibt, auch persönlich kennen gelernt hat - zumal in jener Verfallsphase, die Anfang der 90er Jahre begann, aktuell weiter anhält und die der Autor selbst mit dem Versinken Venedigs im Meer vergleicht.

Ohnehin zeichnet Lebrecht sich - obwohl Übersetzung und Lektorat hier eher dämpfend gewirkt haben dürften - durch einprägsame Metaphorik aus, wenn er zum Beispiel das Wegbrechen der Umsatzzahlen nach den euphorischen CD-Startjahren ins Bild einer "Kernschmelze" fasst. Prägnante Schlagworte allerdings sind das eine, die Übersichtlichkeit der Prozesse etwas anderes - und naturgemäß leidet letztere umso mehr, je schneller sich das Personenkarussell im Management der Produktionsfirmen in den letzten Jahren dreht.

Doch das kann man ja schließlich kaum dem Chronisten zum Vorwurf machen, sondern eben einer Industrie, die sich durch dümmliche Crossover-Inszenierungen, Musik-Lolita-Kreationen und ähnliche Torheiten selbst ihre Existenzbasis entzieht und deren krampfhafte Überlebensschwimmversuche aufs Schönste mit den rapiden personellen Turbulenzen der jeweiligen Möchtegern-Retter korrespondieren - Vorgänge, die der Autor mit gebührender Häme kommentiert.

Trotzdem steht auf einem ganz anderen Blatt, ob man Lebrechts zugespitzten Thesen in jedem Falle folgen soll. Dass sich die Klassikindustrie fundamental wandelt, ist keine Frage - und auch, dass die so genannten "Majors" unter den Labels mit hirn- und kunstlosen Leitfiguren wie Anna Netrebko dabei eine tendenziell klägliche Rolle spielen. Allerdings könnte sich hier wieder einmal Hölderlins Prophezeiung erfüllen, dass da, wo Gefahr ist, auch das Rettende wächst - und hierüber redet Lebrecht in seiner wohligen Lust am Verriss vielleicht etwas zu wenig.

Dass ihm solche Tendenzen trotzdem keineswegs entgangen sind, beweist nicht zuletzt der zweite Teil des Buches, in dem er die aus seiner Sicht 100 prägendsten Aufnahmen der Klassik-Plattengeschichte den 20 überflüssigsten gegenüberstellt - denn da beschreibt er durchaus auch einige jener Innovationen der letzten Jahre, die einen Weg aus der Sackgasse weisen könnten.

Dass ansonsten bei einer solchen Auswahl dem Subjektivismus im Guten wie im Bösen Tür und Tor geöffnet wird, gehört sozusagen zu den allgemeinen Geschäftsbedingungen; doch auch hier gilt, dass man das Ganze nicht als Lehrbuch, sondern als polemische Denkanregung zur eigenen Auseinandersetzung betrachten sollte - und dafür eignet es sich wirklich gut, was nicht zuletzt durch das mittlerweile zu hörende empfindsame Jaulen einiger betroffener Institutionen unterstrichen wird.

Rezensiert von Gerald Felber

Norman Lebrecht: Ausgespielt. Aufstieg und Fall der Klassikindustrie
Verlag Schott, Mainz 2007
384 S., 22,95 Euro
ISBN 978-3-7957-0593-0