Lüsternheit als kulturelle Leistung

29.10.2008
Ein Plädoyer für die Wollust zu halten, wirkt in einer scheinbar durchsexualisierten Welt zunächst wie vergebliche Liebesmüh. Doch englische Philosoph Simon Blackburn legt in seinem klugen Essay dar, dass die Verdammnis des Körperlichen schon lange vor der katholischen Kirche beginnt und noch heute fortdauert. Sein Streifzug durch die Kulturgeschichte der Wollust bietet reizvolle Einblicke.
Zugegeben, man fragt sich allen Ernstes, ob man für die "schönste Todsünde" noch eine Lanze brechen soll. Wo die ganze Welt zu einem einzigen "Feuchtgebiet" erklärt wird, hat da der Sex überhaupt eine Fürsprache nötig? Ja, sagt der englische Philosoph Simon Blackburn, der in Cambridge Ethik lehrt, mehr denn je in einer Zeit, die vor lauter kommerzialisiertem Sex nicht mehr weiß, was unter dem antiquierten Wort "Wollust" zu verstehen ist. Von der Kategorie der Sünde will er sie mit seinem gelehrten Essay zu derjenigen der Tugend befördern.

Seit Papst Gregor I. die Wollust, auch als Ausschweifung bekannt, im 6. Jahrhundert zur Todsünde erklärt hat, steht sie in schlechtem Ansehen und in einer Reihe mit weiteren Lasten wie Hochmut, Habgier, Völlerei, Zorn, Neid und Trägheit. Ihre Folge war die ewige Verdammnis. Dieser aussichtslosen Perspektive wegen wurden sie auch Todsünden genannt.

Blackburn geht aber weit hinter das Frühchristentum zurück. Er zeigt, dass es schon bei den Griechen heiß her ging, wenn sie sich Gedanken über Eros und Sex machten. Pythagoras etwa warnte vor der körperlichen Liebe, da sie die Manneskraft schwäche, Hesiod erblickte im Eros den unversöhnlichen Feind der Vernunft und Hippokrates machte die Fleischeslust für die männliche Kahlköpfigkeit verantwortlich. Platon schließlich sah in ihr die Gefahr des radikalen Kontrollverlusts. Allerdings räumte er ein, dass das Maß entscheidend sei, bloß die Übertreibung schade.

Die christliche Tradition, angefangen bei Augustinus und Thomas von Aquin, kennt nur die Verdammung des Fleisches und einen strengen Enthaltsamkeitskodex, der den Gebrauch der "Geschlechtswerkzeuge" lediglich zum Zweck der Fortpflanzung erlaubt.

Zurecht verweist Blackburn auf die ungebrochene Fortdauer dieser Tradition bis heute, wenn er die päpstliche Enzyklika "Humanae Vitae" anprangert sowie die Sexualerziehungsprogrammen der USA, die ausschließlich Abstinenz propagieren. Und dies trotz der Tatsache, dass derlei Programme die Gesundheitsrisiken unter Jugendlichen beträchtlich erhöhen, da diese in heimlichem und ungeschütztem Geschlechtsverkehr ihre einzige Alternative sehen.

Überraschend hingegen ist Blackburns Exkurs in die Evolutionspsychologie, die in der Wollust auch nichts anderes als die Erfüllung eines genetischen Codes zur Fortpflanzung sieht. So nimmt sie in ebendieser Tradition einen prominenten Platz ein. Dabei, so Blackburn kampfeslustig, sind der Begierde die Gene herzlich egal, sie kennt keine etwaigen Determinismen und "denkt" nicht an Nachwuchs und Reproduktion. Sie verfolgt keinen nützlichen Zweck, außer, mit Nietzsche und Wagner zu sprechen, einen einzigen: "... denn alle Lust will Ewigkeit."

Die Wonnen der Wollust findet Blackburn erstaunlich modern bei Thomas Hobbes beschrieben. Der englische Philosoph, berühmt für seine düstere Auffassung vom Zustand der Natur als eines Krieges aller gegen alle, entdeckt im erotischen Vergnügen - man glaubt es kaum - eine soziale Kategorie. Seine Erfüllung finde es nur im wechselseitigen Genuss, "eine harmonische Symphonie aus Freude und entsprechender Reaktion".

Blackburns Streifzug durch die Kulturgeschichte der Wollust mit Ausflügen in die Literatur, Malerei und Theologie ist alles andere alles eine sexualgeschichtliche Abhandlung. Auch wenn sie im Prinzip nichts grundsätzlich Neues zutage fördert, so eröffnet sie doch reizvolle Einsichten in die Karriere eines Zerrbildes.

Rezensiert von Edelgard Abenstein


Simon Blackburn: Wollust. Die schönste Todsünde
Aus dem Englischen von Matthias Wolf
Wagenbach-Verlag, Berlin 2008
144 Seiten, 10,90 EUR