Lüge und Wahrheit

Der schwankende Boden der Demokratie

Verschiedene Homepages, auf denen über Donald Trump als Wahlsieger bei den Präsidentschaftswahlen in den USA berichtet wird.
Donald Trump auf diversen Internetseiten. © Karl-Josef Hildenbrand, dpa picture-alliance
Von Catherine Newmark · 20.11.2016
Mit der Wahl Donald Trumps erreiche ein schwelendes Unbehagen seinen Höhepunkt, meint unsere Autorin Catherine Newmark. Wie kann unser politisches System funktionieren, wenn die Gesellschaft gespalten scheint? Wie kann argumentiert werden in einer Zeit, die als "postfaktisch" bezeichnet wird?
Der Schock sitzt tief und ist noch längst nicht verarbeitet. Für Vertreter eines liberalen Weltbildes besteht er nicht allein darin, dass Inkompetenz, Rassismus und kindlicher Größenwahn ins Weiße Haus einziehen. Sondern mindestens ebenso stark im Gefühl, dass uns eine gemeinsame Welt abhanden gekommen ist. Gewiss: wie amerikanische Politik unter einem Präsidenten Trump aussehen wird ist Gegenstand ernster und berechtigter Sorge. Genauso tief und noch viel langfristiger allerdings ist die Sorge, was aus liberalen westlichen Demokratien werden soll.
Mit der Wahl Donald Trumps erreicht ein schon länger schwelendes Unbehagen seinen Höhepunkt: Wie weiter mit unseren politischen Systemen, wenn unsere Gesellschaften in solch ungeheurem Ausmaß polarisiert sind? Dass wir uns nicht mehr nur über Lösungswege uneinig sind, sondern sogar über die Problemlage selbst? Wenn es gleichsam keinen gemeinsamen Boden mehr gibt, keine gemeinsame Sprache für die Debatte über Ziele, Werte, Probleme?
Denn für Demokratie ist seit jeher nicht nur Wahlrecht und Mehrheitsentscheid zentral, sondern mindestens genauso, dass es eine "Agora" gibt, wie die alten Griechen es nannten, einen Marktplatz also, auf dem diskutiert und gestritten werden kann.
Die politische Philosophie hat den gemeinsamen Boden lange in der Vernunft und im vernünftigen Diskutieren verortet. Hannah Arendt vertrat wirkmächtig das Ideal einer begründeten und begründenden Kommunikation und auch dasjenige eines engagiert mitdenkenden Bürgers. Jürgen Habermas hält es mit einer "deliberativen" Öffentlichkeit, in der Meinungsverschiedenheiten gepflegt und vernünftig-wohlüberlegt in den Feuilletons bürgerlichen Leitmedien ausgetauscht werden.

Die Vernunft abhanden gekommen

Was aber tun in Zeiten, denen das Leitideal der Vernunft endgültig abhanden gekommen zu sein scheint? Wo Menschen nicht mehr nur, wie es allgemein üblich ist, weniger vernünftig sind, als sie sein sollten, sondern wo der Affekt gegen die Vernunft und gegen empirisch belegbare Fakten nachgerade zum Markenkern des Protests gegen die liberale Moderne geworden ist?
Wenn damit in der jetzt vielbeschworenen "postfaktischen" Gesellschaft Lüge und Wahrheit mit vollem Bewusstsein nicht mehr unterschieden werden, dann kann ein Appell, sich wieder an die Fakten zu halten, nicht helfen. Und ebenso wenig die Forderung, doch bitte wieder vernünftig zu debattieren.
Wenig hilfreich scheint es indes auch, die Demokratie als solche zu hinterfragen und sich in elitären Phantasien zu wiegen, man solle doch all diesen Ungebildeten und Unvernünftigen das Wahlrecht entziehen. Wie schon Churchill wusste: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind."
So unangenehm es vielen erscheinen mag: Am Wiederfinden eines gemeinsamen Bodens führt kein Weg vorbei. Wo aber einen solchen finden?

Wege aus dem Hass

Viel ist derzeit von Anerkennung die Rede. Etwa Anerkennung von negativen Gefühlen. Stichwort Abgehängtheit, Globalisierungsängste. Aber auch die Logik gegenseitiger Anerkennung riskiert in einen regressiv-kindischen Schlagabtausch von doch bitte anzuerkennenden Opferpositionen zu münden.
Möglicherweise muss man eine Ebene tiefer ansetzen. Nicht bei den Emotionen, und schon gar nicht bei der Vernunft. Sondern beim grundlegendsten anthropologischen Faktum. Um einen Gedanken des großen französischen Ethikers Emmanuel Levinas aufzugreifen: es ist das Gesicht des Anderen, das mich dazu herausfordert, ihn als mir Gleichen vorzustellen. "Die Beziehung zum Antlitz ist von vornherein ethischer Art", schreibt Levinas. Von Angesicht zu Angesicht ist es schwerer, zu hassen, schwerer zu töten, schwerer zu lügen. Möglicherweise lässt sich die demokratische Öffentlichkeit nur in der direkten Begegnung reparieren. Basisdemokratie 2.0. Finde einen Menschen, schau ihm ins Gesicht. Finde eine Sprache, um mit ihm zu streiten. Weg vom Hass- und Ressentiment-Geschäft der digitalen Filterblasen. Back to the basics.
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