Lotte Lenya und Kurt Weill

Zu zweit allein

Der Komponist Kurt Weill und seine Frau, die Schauspielerin Lotte Lenya, am 17. August 1942 im US-Exil bei New York vor dem Klavier.
Der Komponist Kurt Weill und seine Frau, die Schauspielerin Lotte Lenya, am 17. August 1942 im US-Exil bei New York vor dem Klavier. © picture alliance / AP Photo / Robert Kradin
Von Beate Bartlewski · 17.04.2021
Kurt Weill und Bertolt Brecht bildeten zu ihrer Zeit ein Dream-Team des Theaters, doch Gleiches galt auch für Kurt Weill und Lotte Lenya: Seine Frau wurde zur gefeierten Darstellerin in den Stücken. Nach dem Tod ihres Mannes begann ihre zweite Karriere.
Als Lotte Lenya (1898–1981) und Kurt Weill (1900–1950) sich 1924 begegneten und sich sofort ineinander verliebten, war das der Beginn einer turbulenten Beziehung eines denkbar ungleichen Paares. Er, der hochgebildete, aufstrebende Komponist aus einer jüdisch-deutschen Kantorenfamilie, angetreten, die Oper zu erneuern, und sie, die Tänzerin und Schauspielerin, in Wien in ärmlichsten Verhältnissen mit einem prügelnden Vater aufgewachsen.
Weill war von ihrer Stimme fasziniert und schrieb ihr Rollen auf den Leib. Das war ihr nicht genug. "Aber Liebling, Du kommst doch direkt nach meiner Musik", entgegnete er ihr ahnungslos. Für ihn eine Liebeserklärung, für sie zu wenig, um die in ihrer Kindheit erlittenen Defizite auszugleichen. Sie stürzte sich in zahlreiche Affären. Aber trotz wiederholter Trennungen auf ihren Stationen von Berlin über Frankreich nach Amerika riss das Band zwischen beiden nie ab, denn sie brauchten einander elementar. Als Weill auf dem Höhepunkt seiner Karriere mit nur 50 Jahren starb, war Lenya am Boden zerstört. Einzig der Gedanke, für seine Musik zu kämpfen, hielt sie am Leben. So kam es zur Weill-Renaissance in Europa, und Amerika lernte erst durch sie den europäischen Weill kennen. Paradoxerweise machte die Musik ihres Mannes, die für sie zu seinen Lebzeiten eine unüberwindliche Konkurrenz darstellte, Lotte Lenya nach seinem Tod zur eigenständigen Künstlerin.

Erste Begegnungen in Berlin

Lotte Lenya wohnte im Jahr 1924 bei dem expressionistischen Dramatiker Georg Kaiser und seiner Familie als eine Art Mädchen für alles. Kaisers wohnten im Grünen bei Berlin, und man musste, um zum Haus zu gelangen, über einen See rudern. Nun hatte man Lotte Lenya damit beauftragt einen jungen vielversprechenden Komponisten namens Kurt Weill abzuholen, der zu Georg Kaisers Stück "Der Protagonist" die Musik schreiben sollte.
Lotte Lenya und Kurt Weill bei der Premiere der Dreigroschenoper am 31.8.1928.
Lotte Lenya und Kurt Weill bei der Premiere der "Dreigroschenoper" am 31.8.1928© picture alliance / akg images
"Aber bevor ich ging, fragte ich Kaiser noch, wie ich ihn erkennen würde, und er sagte: "Ach, die sehen doch alle gleich aus." Er meinte damit, dass zu der Zeit alle Musiker eine bestimmte Art von Hut mit schwarzer Krempe trugen, was sehr leicht zu erkennen war. Auf jeden Fall ging ich zum Bahnhof, und da war er. Nur etwas größer als ich selbst, sehr ordentlich und korrekt, mit einer sehr schwarzen Brille und natürlich dem schwarzen Hut."
Kurt Weill 1919 in einem Brief an seine Geschwister Hans und Ruth:
"Ich möchte mich einmal zum Rasendwerden verlieben, dass ich alles andere darüber vergessen würde. Das aber, was ich von der Frau verlange, was jeder von uns, wir Künstler am meisten, vom Weibe brauchen, nicht nur in sinnlicher, sondern auch in geistig-seelischer Beziehung, das, wovon Goethes 'Ewig-Weibliches' die schöne Potenzierung ist, das findet man bei den intelligenten Mädels so selten. Und wo ist die, die das richtige Mittelmaß zwischen beiden bietet?"

Der Beginn der Zusammenarbeit

Lotte Lenya erinnert sich:
"Er hatte eine hübsche kleine Wohnung, damals arbeitete er noch an 'Der Protagonist'. Und er fragte mich: 'Möchten Sie ein bisschen davon hören?' Ich sagte: 'Oh ja, ich würde sehr gerne etwas hören.' Darauf er: 'Also meinem Bruder Hans hat es überhaupt nicht gefallen, jetzt bin ich wirklich gespannt auf Ihre Reaktion.' Eigentlich seltsam, so atonal das auch war, ich fand es wunderbar. Ich sagte: Tja, Herr Weill, ich weiß nicht, warum, aber ich finde diese Musik einfach herrlich.' Darüber freute er sich dermaßen, dass er sagte: 'Darf ich Ihnen vielleicht einen Tee machen?'"
Nachdem das frisch verliebte Paar einige Monate zwischen Grünheide und Berlin hin und her gependelt ist, ziehen beide Anfang 1925 ganz nach Berlin. Weill stürzt sich in seine Arbeit. Er gehört bald mit zur Spitze der jungen zeitgenössischen Komponisten. Euphorisch schreibt er an seine Eltern:
"Ich stelle zu meiner Freude fest, dass ich allmählich zu "mir" vordringe, dass meine Musik viel freier, lockerer, einfacher wird. Das hängt auch damit zusammen, dass ich äußerlich unabhängiger, sicherer, heiterer und weniger verkrampft geworden bin. Daran hat natürlich das Zusammenleben mit Lenya wieder starken Anteil. Das hat mir sehr geholfen. Es ist ja die einzige Art, wie ich einen Menschen neben mir dulden kann: ein Nebeneinander zweier verschiedener künstlerischer Interessen, ohne innere Bindung - jeder auf seinem Weg durch den anderen gefördert. Wie lange das geht? Ich hoffe: recht lang."
Kurt Weill mit Brille lehnt sich nah an seine Frau Lotte.
Leben in Symbiose: Kurt Weill mit seiner Frau Lotte.© imago / Mary Evans Archives
Lenya allerdings blieb auf dem Teppich; fünf Jahre war sie nun in Berlin und noch immer blieben die Rollenangebote aus. In ihrer schnoddrigen Art bekannte sie: "Da war nix mit Karriere." Lenyas erzwungenes Nichtstun und Weills Arbeitswut trübten allmählich die Harmonie der Beziehung.
Trotz oder auch wegen ihrer völlig unterschiedlichen Charaktere brauchen sie einander elementar. Sie heiraten 1926.

Sanfte Stimme, leicht spöttelnd

"Weill war sehr klein, unglaublich schüchtern, mit einem merkwürdig kindlichen Lächeln und einem kalten Blick voller Ironie", schrieb Lotte Lenya. "Sein Bruder Hans kam nach der mütterlichen Linie, doch Kurt, Ruth und Nathan ähnelten mehr dem Vater: hohe Wangenknochen, braune Augen, gewelltes dunkelbraunes Haar, feingliedrige Handgelenke und Fesseln, insgesamt anfällig wirkend, obwohl sie alle sehr gesund waren. Väterlicherseits hatten sie hohen Blutdruck geerbt.
Kurt hatte bemerkenswerte Ohren: klein, eng anliegend, wohlgeformt, rund wie Muscheln, ohne Ohrläppchen und berührungsempfindlich – besonders hasste er es, wenn ein Friseur sie berührte.
Sehr zarte, schlanke Hände, nach außen hin schmaler werdende Finger, markante Handlinien. Genau einsneunundfünfzig groß, Schuhgröße 41/42, breiter Brustkorb (wohl zum Teil durch Schwimmen erworben), schmale Hüften, kräftiges Kinn, großer, angenehm sinnlicher Mund, wie Charles Boyer. Schmale, gerade Nase, markante Augenbrauen, perfekte Zähne, dominierende hohe Stirn.
Sprach mit sanfter Stimme, leicht spöttelnd, weshalb ihn die Leute oftmals für arrogant und sarkastisch hielten. Wusste stets, was er sagen wollte und wie. Im Zorn wurde seine Stimme nahezu unhörbar, kalt und direkt, messerscharf. Offen für rein professionelle Kritik. Er konnte lustig und humorvoll, ironisch und satirisch sein, jedoch nicht bösartig."

Heiraten, um das Gruseln zu lernen

Kurt Weill über Lotte Lenya: "Sie ist eine miserable Hausfrau, aber eine sehr gute Schauspielerin. Sie kann keine Noten lesen, aber wenn sie singt, dann hören die Leute zu wie bei Caruso. (Übrigens kann mir jeder Komponist leidtun, dessen Frau Noten lesen kann.)
Lotte Lenya in "James Bond 007 – Liebesgrüße aus Moskau", 1963.
Lotte Lenya in "James Bond 007 – Liebesgrüße aus Moskau"© imago / Courtesy Everett Collection
Sie kümmert sich nicht um meine Arbeit. (Das ist einer ihrer größten Vorzüge.) Aber sie wäre sehr böse, wenn ich mich nicht für ihre Arbeit interessieren würde. Sie hat stets einige Freunde, was sie damit begründet, dass sie sich mit Frauen so schlecht verträgt. (Vielleicht verträgt sie sich aber auch mit Frauen darum so schlecht, weil sie stets einige Freunde hat.) Sie hat mich geheiratet, weil sie gern das Gruseln lernen wollte, und sie behauptet, dieser Wunsch sei ihr in ausreichendem Maße in Erfüllung gegangen. Meine Frau heißt Lotte Lenja."

"Mahagonny" und Bertolt Brecht

1927 bekam Weill den Auftrag eine Kurzoper zu schreiben für das jährlich stattfindende Festival für zeitgenössische Musik in Baden-Baden. Als Grundlage für das Libretto erschienen ihm die "Mahagonnygesänge" der "Hauspostille" eines gewissen Bertolt Brecht geeignet.
Lotte Lenya: "Wir trafen ihn (Bertolt Brecht) zuerst in einem sehr berühmten Theaterrestaurant namens 'Schlichter' in der Lutherstraße. Damals schlug Kurt vor, dass er gerne die fünf 'Mahagonnygesänge' vertonen würde. Brecht stimmte zu. Als er später, zum ersten Mal zu uns kam, schaute ihn unsere Wirtin, wie er da vor der Tür stand, an, und sagte: 'Nein, nein. Wir können heute nichts geben.' Sie hielt ihn tatsächlich für einen Bettler und schloss die Tür. Kurt vernahm seine Stimme und rief: 'Moment mal, lassen Sie ihn doch herein.'"
Brecht und Weill waren sich einig, dass der "Mahagonny"-Stoff mehr hergab. Sie waren mitten in der Arbeit "Mahagonny" zu einer abendfüllenden Oper zu erweitern, als ein Auftrag dazwischenkam, der zu einem der größten Erfolge der Theatergeschichte werden sollte.

Die Dreigroschenoper

Lotte Lenya erzählt: "Ernst Aufricht, ein junger Produzent, suchte 1928 nach einem Stück. Brecht sagte: 'Ich habe da einen kleinen Entwurf nach John Gays 'Beggar’s Opera', falls Sie ihn lesen mögen.' Aufricht war ganz begeistert. 'Ganz wunderbar, ja, das würde ich gern machen.' Brecht schlug Weill für die Musik vor, doch Aufricht, der nur die atonale Musik aus 'Royal Palace' und 'Der Protagonist' kannte, sagte: 'Oh nein, der ist bestimmt nicht der richtige Komponist dafür.' Brecht bestand aber darauf, dass Kurt die Musik komponieren sollte."
Die österreichisch-amerikanische Sängerin und Schauspielerin Lotte Lenya während der Ruhrfestspiele im Juni 1965 als "Mutter Courage". Lotte Lenya (eigentlich Karoline Blamauer) wurde am 18. Oktober 1898 in Wien geboren. 1925 heiratete sie den Komponisten Kurt Weill, mit dem sie 1933 über Paris in die USA emigrierte. Als beste Interpretin der Lieder ihres Mannes feierte sie u.a. als "Seeräuberjenny" in der "Dreigroschenoper" (Brecht/Weill) und mit dem Lied vom "Surabaya-Johnny" aus dem Stück "Happy End" (Brecht/Weill) große Erfolge.
Lotte Lenya als "Mutter Courage", 1965.© picture alliance / dpa / Ducklau
Kurt Weill: "Was wir machen wollten, war die Urform der Oper. Bei jedem musikalischen Bühnenwerk taucht von neuem die Frage auf: Wie ist die Musik, wie ist vor allem Gesang im Theater überhaupt möglich? Diese Frage wurde hier auf einmal auf die primitivste Weise gelöst. Ich hatte eine realistische Handlung, musste also die Musik dagegensetzen, da ich ihr jede Möglichkeit einer realistischen Wirkung abspreche. So wurde also die Handlung entweder unterbrochen, um Musik zu machen, oder sie wurde bewusst zu einem Punkt geführt, wo einfach gesungen werden musste. Dieses Zurückgehen auf eine primitive Opernform brachte eine weitgehende Vereinfachung der musikalischen Sprache mit sich. Aber was zunächst als Beschränkung erschien, erwies sich im Laufe der Arbeit als eine ungeheure Bereicherung."

Lotte Lenya als Seeräuberjenny

Ernst Aufricht erinnert sich: "In den ersten Probentagen wurden mir in meinem Büro Kurt Weill und seine Frau gemeldet. 'Ich will Ihnen morgen meine Musik vorspielen, und ich habe noch einen Wunsch, ich möchte, dass meine Frau die Jenny, eine der Huren, spielt.' Ich war unangenehm berührt. Ich kannte Lotte Lenya als Schauspielerin nicht, hatte auch nie von ihr gehört. 'Gut', sagte ich trotzdem, denn sie sah begabt aus, hatte schöne Bewegungen und gefiel mir. 'Weill wird mir auch einen Song komponieren', sagte sie in der Tür. Ziemlich unverschämt ist die, dachte ich, und: Dem kleinen Weill kommt eine so attraktive Frau doch gar nicht zu."
Die "Dreigroschenoper" brachte beiden den Durchbruch. Ganz Berlin pfiff den Mackie-Messer-Song. Nicht nur Weill war gefragt wie nie zuvor, sondern auch Lenya bekam endlich Rollenangebote an erstklassigen Theatern. Sie konnten sich jetzt eine komfortablere Wohnung und ein Auto leisten. Das Glück sollte jedoch nicht lange ungetrübt bleiben. Während Weill mit Brecht an "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" arbeitete, zogen dunkle Wolken am Horizont auf. Der Börsencrash 1929 war schließlich der Anfang vom Ende.
Lotte Lenya: "Kurts letzte Arbeit in Deutschland war 'Der Silbersee', die er gemeinsam mit Georg Kaiser geschrieben hatte. Premiere war an drei Theatern gleichzeitig. Dort gibt es eine Ballade, die Ballade von Cäsars Tod, die offenkundig Hitler porträtieren soll. Gleich darauf hat Goebbels alle weiteren Aufführungen verboten."
Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag. Weill wurde gewarnt, dass er in höchster Gefahr sei. Anfang März desselben Jahres brachten ihn die Nehers in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über die französische Grenze. Die wenigsten konnten sich vorstellen, dass Hitler sich lange halten würde und glaubten, dass der Spuk bald vorüber sei, auch Kurt Weill. Aber er irrte sich. Kurt Weill sollte Deutschland nie wieder betreten.

Karriere nach dem Tod Weills

Kurt Weills Tod 1950 stürzte Lotte Lenya in ein tiefes schwarzes Loch. Sie wurde von Trauer und Schuldgefühlen überwältigt. Sie wollte einfach nicht mehr leben. Jahrelang hatten beide in einer symbiotischen Beziehung gelebt. Und nun musste sie nicht nur ohne emotionale Stütze auskommen, sondern zum ersten Mal musste sie sich auch mit äußerst komplizierten geschäftlichen Dingen auseinandersetzen. Aber Lenya wäre nicht Lenya, hätte sie sich nicht irgendwann aus dem Tal der Tränen aufgerappelt.
Ungefähr sechs Wochen nach Weills Tod traf Lenya George Davis wieder, den sie schon in den 30er-Jahren zur Zeit ihres Nachtclubengagements in New York kennengelernt hatte. George Davis war ein hochbegabter Literat, der nicht nur Chefredakteur der Modezeitschriften "Mademoiselle" und "Flair" gewesen war, sondern auch Entdecker und Verleger von so hochkarätigen Schriftstellern wie Carson McCullers und Truman Capote. Davis hatte in Europa studiert, und er kannte somit auch Weills europäische Werke. Er besaß ein großes Organisationstalent und er wusste, was zu tun war, um Weills europäische Musik in Amerika bekannt zu machen.
Lotte Lenya: "George half mir aus der tiefen, tiefen Depression heraus, in der ich steckte. Er überzeugte mich, dass ich im Theater immer noch einen Platz hatte und dass ich für den Namen Kurt Weill nur etwas tun konnte, indem ich mir einen eigenen Namen machte."
Den ersten und entscheidenden Schritt dazu machte sie, als sie im Februar 1951 zum ersten Mal nach vielen Jahren öffentlich auftrat, an einem von Josef Aufricht organisiertem Kurt-Weill-Abend. Im ersten Teil des Abends erklangen Auszüge aus Weills amerikanischen Werken und im zweiten Teil eine auf Deutsch gesungene Fassung der Dreigroschenoper, in der Lenya alle weiblichen Hauptrollen sang.
Lotte Lenya bei einem Auftritt in München 1950.
Neue Karriere nach dem Tod ihres Mannes: Lotte Lenya bei einem Auftritt in München 1950.© imago / Zuma / Keystone
Jerry Tallmer von der New Yorker "Village Voice" über Lotte Lenya:
"Kritiker werden immer wieder davor gewarnt, den Ausdruck 'dramatisch' zu vermeiden; zu dieser späten Stunde kann ich aber nur sagen, dass mir kein passenderes Wort einfällt um den Moment zu beschreiben, als Miss Lenya in die Mitte des vorderen Bereichs der Bühne schlenderte, um die ersten bedachten, spröden, grausamen Noten des berühmten Songs ihres Mannes über das Schiff mit acht Segeln zu singen, dem Schiff, auf dem die junge Dienstmagd und baldige Hure Jenny (in ihren Tagträumen) hinaus in die Bucht zu segeln pflegte, um die Kanonen des Schiffes auf ihre gesamte verdammte Lebensart, und Ihre, und meine zu richten ...
In Miss Lenyas Händen wird eine große Halbwahrheit, nach fünfundzwanzig Jahren jeden Abend noch zu einer Waffe mit blendender Kraft und Schönheit. Ob es einem gefällt oder nicht, das ist Kunst."

Rückkehr nach Deutschland

"Erstmals kam ich 1955 wieder nach Berlin, um Schallplatten für Columbia aufzunehmen, und fand meine geliebte Stadt vollkommen zerstört vor. Ich wollte gleich wieder heimreisen. Da sah ich nun jene Stadt, die ich wirklich geliebt hatte, in der ich Kurt Weill begegnet war, in der wir glücklich und erfolgreich waren. Ich blieb wegen der Schallplattenaufnahmen. Als ich nach drei Tagen durch die zerstörte Stadt ging, ließ mich das gänzlich unberührt. Es war wie ein Spaziergang durch Pompeji. Es war mir so entrückt, weil es überhaupt nicht mehr dem glich, was es einst war."
Die Platte "Lotte Lenya singt Kurt Weill" wurde sofort zu einem Klassiker. Der Erfolg der "Threepenny Opera" und der amerikanischen Ausgabe der Platte von Weills Berliner Theaterliedern machte Lenya in den Vereinigten Staaten berühmt, so wie sie und Davis es angestrebt hatten. Entscheidend zur Popularität trug aber ein Song bei: ganz New York pfiff den Mackie-Messer-Song, genauso wie damals in Berlin.
"Die Moritat wurde inzwischen von 17 verschiedenen Schallplattenfirmen aufgenommen. Sie ertönt überall aus Bars, Jukeboxes, Taxis. Kurt wäre begeistert gewesen. Ein Taxifahrer, der seine Melodien pfeift, hätte ihm mehr gefallen als der Pulitzer-Preis."

Lotte Lenya im Film

Beruflich ist Lenyas Weill-Mission fast abgeschlossen, sie kann sich jetzt verstärkt anderen Projekten zuwenden. Sie nimmt eine Rolle an in dem Film "The Roman Spring of Mrs. Stone" mit Vivian Leigh und Warren Beatty in den Hauptrollen. Dieser Film, in dem sie eine Kupplerin spielt, bringt ihr auf der Stelle eine Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin ein. Eine andere Rolle macht sie mit einem Schlag in der ganzen Welt bekannt, die der Rosa Klebb in dem James-Bond-Film "Liebesgrüße aus Moskau". Lenya spielt eine mit allen Wassern gewaschene russische Spionin. Berühmt wurde die Kampfszene mit dem Messer im Schuh.
"Die Zusammenarbeit mit Sean Connery war absolut traumhaft. Als das letzte Gefecht dran war – das mit dem Stuhl -, sagte Terence zu ihm: "Ja, Sean, diesmal musst du wirklich kämpfen", denn sonst nahm man meist Stuntmen.
Danach sah ich aus, als hätte ein Sadist mich vermöbelt. Überall blaue Flecken, doch es hat funktioniert, denn jeder erinnert sich an die Schuhszene. Immer wieder hält man mich auf der Straße an. 'Das ist doch die Frau mit dem Messer im Schuh!'"
Mit 68 Jahren, in einem Alter in dem die meisten Frauen damit beschäftigt sind, sich ihren Platz auf dem Friedhof zu reservieren, oder sich wegen der Pflegeversicherung zu erkundigen, startet Lotte Lenya eine vollkommen neue musikalische Karriere, mit einer Energie, die ausreichen würde, eine Rakete auf den Mond und zurück fliegen zu lassen. "Sechzehn Jahre lang", sagt sie und verzieht ihren Mund zu einem schief-zahnigen Grinsen, das an einen Halloween-Kürbis erinnert, "war ich die Witwe von Kurt Weill. Jetzt bin ich wieder ich selbst!"
Die österreichisch-amerikanische Sängerin und Schauspielerin Lotte Lenya am 10. Februar 1973 während eines Gedenkabends zu Ehren des 75. Geburtstags des Dramatikers Bertolt Brecht in Frankfurt am Main. Lotte Lenya, die nach dem Tode Weills noch zweimal heiratete, starb am 27. November 1981 in New York.
Stand zu ihrem Alter: Lotte Lenya, hier 1973 während eines Gedenkabends zu Ehren des 75. Geburtstags von Bertolt Brecht.© picture-alliance / dpa / Manfred Rehm
"Es ist eine große Gnade, seinen 80. Geburtstag feiern zu dürfen. Mir liegt daran, die Jahre zu zählen, und nicht daran zu sterben. Ich habe mir nie Gedanken über das Alter gemacht. Nicht mit 50 und nicht mit 70. Ich liebe das Leben. Ich kenne nur wenige amerikanische Schauspielerinnen, die ohne Umschweife zu ihrem Alter stehen. Eigentlich sind es nur drei: Ruth Gordon, Marlene Dietrich und Lotte Lenya."
Nach mehreren Unfällen und wiederholten Operationen stirbt Lotte Lenya am 27. November 1981. Sie liegt neben Kurt Weill begraben.

Kurt-Weill-Zentrum in Dessau

In den 1990er-Jahren wurde das Kurt-Weill-Zentrum in Dessau gegründet. Es handelt sich dabei um die einzige europäische Dokumentations- und Informationsstelle über Leben und Werk des in Dessau geborenen Komponisten. Das Kurt-Weill-Zentrum befindet sich in dem 1925/26 nach Plänen von Walter Gropius erbauten "Meisterhaus Feininger", in dem der Bauhausmeister Lyonel Feininger zwischen 1925 und 1932 lebte. Das einzigartige Gebäude zählt zum UNESCO-Welterbe. Das Kurt-Weill-Zentrum steht jedem interessierten Besucher offen und informiert in einer Dauerausstellung über Leben und Werk Kurt Weills.
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