London im Ausnahmezustand

11.12.2006
Es fängt gerade an zu dämmern, als im Londoner Regent's Park ein Orchester einen Walzer anstimmt. Begierig nach Zerstreuung versammeln sich Spaziergänger um die Musiker und vergessen für eine Weile den mühseligen Alltag in der gespenstischen Stadt - tagtäglich sind die Bewohner im September 1942 Bombenangriffen ausgesetzt, der Luftkrieg hatte London bis zur Unkenntlichkeit zerstört, und die "Mauer zwischen den Lebenden und den Toten" scheint mit jeder Stunde dünner zu werden.
Elizabeth Bowen macht einen Ausnahmezustand zum Hintergrund ihres Romans "In der Hitze des Tages" (1949), und die Bedrohung durch die äußeren Umstände spiegelt sich in den prekären Beziehungen der Hauptfiguren. Im Mittelpunkt steht Stella Rodney, eine anziehende 40-jährige Witwe, die Verbindungen mit zwei Männern eingeht. Stellas Liebhaber Robert Kelway ist ein in Dünkirchen verwundeter Soldat, der in obskurer Mission für die Regierung unterwegs zu sein scheint. Der zweite heißt Harrison und arbeitet für die britische Spionageabwehr.

Es entspinnt sich ein veritabler Spionagethriller: Harrison kommt landesverräterischen Aktivitäten von Kelway auf die Spur und verspricht Stella, darüber zu schweigen, wenn sie auch ihm ihre Gunst schenkt. Verdacht, Vermutungen und Verrat halten sich lange Zeit die Waage. Als Meisterin der Psychologie lässt es Bowen nicht bei dem geschickten Erpressungsversuch bewenden, sondern beleuchtet vor allem die inneren Krisen von Stella und Kelway. Beide sind ihrem Leben und ihrer Herkunft völlig entfremdet und trudeln ziellos durch die kriegsgeschundene Stadt.

Die Stärke von "In der Hitze des Tages" liegt vor allem in der Schilderung der Zeitumstände. Mit großer atmosphärischer Dichte vermittelt Bowen das Lebensgefühl jener Tage. Der Kriegsalltag teilt sich einem unmittelbar mit: Er steckt in den Häusern, den Straßen, den Bahnhöfen und Reisebüros. In jedem Moment verströmt London die Empfindung des Unbeständigen.

Eingearbeitet in den Roman sind zahlreiche autobiographische Erfahrungen: Für Bowen war der Krieg eine ihrer aufregendsten Lebensphasen. Von Churchills Informationsministerium wurde sie mit geheimen Reisen nach Irland betraut, wo sie 1899 als Angehörige des protestantischen Adels geboren worden war, und sollte die Haltung des neutralen Landes begutachten. Außerdem war die Schriftstellerin 1942 eine stürmische Affäre mit dem kanadischen Diplomaten Charles Ritchie eingegangen.

Elizabeth Bowen zählt zu den großen englischsprachigen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts und gilt als Bindeglied zwischen Virgina Woolf und der Generation von Iris Murdoch. In ihren weiträumigen Sittenbildern analysiert sie immer wieder den Untergang der Vorkriegswelt und liefert messerscharfe psychologische Studien. Oft geht sie wie eine Malerin vor, nimmt den Schauplatz in Augenschein und dann ihre Figuren, die vom Charakter ihrer Umgebung geleitet zu sein scheinen.

Das großbürgerliche Gebaren ihrer Helden ist oft nur noch Fassade, mechanisch ausgeführte Verhaltensmuster ohne jede Verankerung in der Wirklichkeit. "Figuren müssen sich materialisieren - d. h, müssen von einer greifbaren körperlichen Realität sein", erklärt sie einmal. "Sie dürfen nicht nur sichtbar (vorstellbar) sein; sie müssen gefühlt werden", und genau diese emotionale Prägnanz gelingt Bowen immer wieder. Die Epochenbrüche schlagen sich im Inneren der Menschen nieder und beeinflussen ihr Verhalten, ohne dass es ihnen bewusst würde.

Auch bissige Gesellschaftskritik gehört zu Bowens Repertoire. Durch die Werkausgabe im Schöffling Verlag, die 2001 ihren Auftakt nahm, wurde Elizabeth Bowen dem deutschen Publikum überhaupt erst nahe gebracht. "In der Hitze des Tages" erreicht nicht die berückende Intensität von "Der letzte September" oder "Kalte Herzen". Dennoch ist es ein brillantes Porträt Londons in den Tagen des Krieges.

Rezensiert von Maike Albath

Elizabeth Bowen: In der Hitze des Tages
Roman. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Frankfurt/ M. Schöffling & Co.
440 Seiten. 24, 90 Euro.