Loitz in Mecklenburg-Vorpommern

Eine Kleinstadt freut sich über ein großzügiges Erbe

Zwei heruntergekommene Häuser in Greifswalder Straße in Loitz. In dieser Straße wuchs Werner Niemann auf.
Die Greifswalder Straße in Loitz. Hier wuchs Werner Niemann auf. © picture alliance / dpa / Stefan Sauer
Von Silke Hasselmann · 04.12.2018
Nach dem Weltkrieg verließ Werner Niemann seine Heimat und machte Karriere in Bayern. Seinen Geburtsort besuchte er nie wieder, vergessen aber hat er ihn nicht: Aus seinem Erbe erhält die Kleinstadt 500.000 Euro - unter einer Bedingung.
In Loitz, gelegen zwischen Greifswald und Demmin, läuten schon morgens um 8 Uhr die Kirchturmglocken. Erste Ladenrollos werden hochgezogen. Auch im rosafarbenen Rathaus am Marktplatz ist das Verwaltungsleben erwacht.
Christin Witt, bislang Haupt- und Ordnungsamtsleiterin, wurde vorigen Donnerstag zur neuen Bürgermeisterin von Loitz bestellt. Offiziell tritt sie ihr Amt am 1. Januar des neuen Jahres an. Doch weil ihr Vorgänger im Sommer zum Landrat des riesigen Kreises Vorpommern-Greifswald gewählt wurde, nimmt Christin Witt die Bürgermeisteraufgaben schon jetzt wahr. Die ungewöhnlichste dieser Aufgaben besteht darin, 500.000 unerwartet geerbte Euro im Sinne des Wohltäters auszugeben. Doch der Reihe nach:
"Wir haben eine Information vom Amtsgericht München mit Schreiben vom 5.12.2017 erhalten, dass die Stadt Loitz im Vermächtnis des Senators Niemann bedacht wurde. Es war natürlich auch ein Thema in der Verwaltung. Ja, wir waren begeistert!"
Denn dergleichen gab es noch nie in der vorpommerschen Kleinstadt mit ihren rund 4300 Einwohnern.
"Also so etwas? Nein!"
Die Todesanzeigen etwa in der "Süddeutschen Zeitung" besagten, dass Werner Niemann 95 Jahre lebte und unter anderem von Münchens größter Universität zum Senator ehrenhalber ernannt worden war. Er trug den Bayerischen Verdienstorden und die Ehrenmedaille des Bayerischen Deutschen Roten Kreuzes in Gold. Doch darüber hinaus habe man sich erst schlau machen müssen über den bis dahin kaum beachteten Sohn der Peene-Stadt, sagt Christin Witt.

Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen

"Er ist ja 1923 geboren, ist hier aufgewachsen in sehr - so wurde uns das übermittelt - einfachen Verhältnissen. Hat hier auch eine kaufmännische Lehre begonnen. Wir wissen auch, dass er in der Greifswalder Straße gewohnt hat. Sein Haus ist heute auch noch da. Das wissen wir, und dass er nachher später, als er die Stadt verlassen hat, in seinem Leben auch sehr geschäftstüchtig war."
Tatsächlich verdichten sich Werner Niemanns Lebensläufe zu einer deutschen Variante der amerikanischen Aufstiegsgeschichte "vom Tellerwäscher zum Millionär". Unter sehr ärmlichen Verhältnissen in Loitz aufgewachsen, wusste er, was es bedeutet, Hunger zu leiden und nicht auf die Mittelschule gehen zu können, weil die Familie das nötige Geld nicht aufbringen konnte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg baute sich Werner Niemann in Westdeutschland eine erfolgreiche Unternehmerkarriere auf. Später stiftete der Multimillionär immer wieder hohe Beträge aus seinem Privatvermögen – vor allem für kulturelle Zwecke und für das Wohlergehen von Kindern. Was Loitz betrifft, so sagt Christin Witt:
"Er selbst war, soweit ich wie weiß, nicht wieder hier."

Auch Möbel und Kleidung gehören zum Erbe

Umso überraschender also, dass Werner Niemann seine kleine Geburtsstadt im Nordosten Deutschlands zum Ende seines Lebens bedacht hatte - und das gleich auf zwei Ebenen, sagt Christin Witt und eilt demonstrationshalber über den Markt hin zu einem roten Backsteinhaus.
"Ja, und hier ist unser Standesamt. Da hat seit ein paar Wochen der Teppich seinen Platz gefunden. Wir haben auch überlegt, ob wir ihn erst in den Rathaussaal, haben dann aber gesagt: Nein, wir haben den Platz ausgesucht hier fürs Standesamt, dass das doch der passendere Platz ist."

Zu den orangefarbenen Stühlen passt der erkennbar kostbare Teppich mit seinem hellen Blauton besonders gut. Er ist nicht das einzige Sachgeschenk des Mäzens, weiß Toni Krüger. Angestellt auf dem Bauhof der Stadt fuhr auch er im Oktober kurzerhand mit einer Loitzer Delegation nach München, um auch alles andere abzuholen.
"Seine Sekretärin oder Angestellte, die verwaltet das. Die hat uns denn erst mal das Haus kurz gezeigt, wie und was wir mitnehmen können, was dazu gehört, zu dem Erbe: Das ist einmal der Teppich, der jetzt hier liegt im Standesamt. Korbmöbel, ein großer stabiler Eichentisch, eine Kommode. Messingkronleuchter gab's noch dazu. Schuhe, Hemden, Krawatten, Hosen – also es waren mehrere blaue Säcke, die wir mitgenommen haben."
Christin Witt, künftige Bürgermeisterin von Loitz in Mecklenburg-Vorpommern, in ihrem Büro
Die künftige Bürgermeisterin Christin Witt freut sich über den Geldsegen.© Silke Hasselmann

Geld für einen guten Zweck

Die bestens erhaltenen Kleidungsstücke lagern momentan im sogenannten "Kompetenzzentrum arbeitslose Loitzer" und sollen veräußert werden. Der zweite Teil des Vermächtnisses besteht aus einer halben Million Euro, auszugeben von der Stadt ausschließlich für Kindereinrichtungen - so Niemanns letzter Wille. Als die Stadtvertreterversammlung zu entscheiden hatte, ob Loitz dieses Erbe annehmen möchte, gab es keine zwei Meinungen, erinnert sich Toni Krüger. Obwohl:
"Es sind ja viele, die ihn gar nicht weiter kannten, weil es ja schon so ewig her ist. Aber es ist schon viel wert, wenn so Leute noch an die kleine Stadt Loitz denken, obwohl er ja eigentlich auch so weit weg ist. Es war ja auch eine Menge Geld damit verbunden, und das war ja auch das Entscheidende, sag ich mal so, ne. Ich meine, die Möbel und so natürlich. Kann man auch. Aber ich sage mal, das Geld, das war ja auch nicht gerade eine kleine Summe, die überwiesen wurde. Und das ist ja für einen guten Zweck. Das ist ja für die Kinder und den Hort."
Loitz ist keine wohlhabende Kommune - das erkennt man schnell. Die B 194 führt hindurch, und nur die wenigsten Passanten haben einen Grund in Loitz zu halten, gar zu bleiben.
Das Städtchen liegt direkt am Fluss mitten im wunderschönen, naturgeschützten Peenetal, zugleich aber auch in einer Gegend, die jahrelang deutschlandweit Negativrekorde in Sachen Arbeitslosenrate, verfügbare Einkommen und Abwanderung hielt. Man sieht es vor allem dem Stadtkern noch immer an, wo viele Wohn- und Geschäftshäuser leer stehen. In manchen Dörfern ringsum halten sich nur noch einige alte.
Doch der bisherige Loitzer Bürgermeister Michael Sack, der im Oktober gemeinsam mit Toni Krüger nach München gefahren ist, meint: Totgesagte leben länger. Auch in dieser Gegend. Erst recht in dieser Stadt.

Das Erbe soll Kindern zugute kommen

"Also eine Entvölkerung wird wohl punktuell so passieren. Es werden wohl Dörfer aufgegeben werden. Es werden Wüstungen entstehen. Das gab's früher auch. Das ist ein Prozess - das ist einfach so. Aber ich glaube, was wir wahrnehmen seit zwei Jahren etwa, ist ein reger Zuzug in unser Gebiet. Das hätten wir so nicht erwartet. Es kommen Leute, Selbständige, die einfach sagen: 'Ich möchte nicht mehr im urbanen Raum leben. Ich kann hier von zu Hause arbeiten, fahre einen Tag in der Woche zu Meetings nach Hamburg, Berlin oder weiß ich wohin, und arbeite ansonsten von meinem großen Fenster oder meiner großen Terrasse aus. Bin eher am Laptop unterwegs, brauche gutes Internet. Und ansonsten können meine Kinder hier aufwachsen - frei und unbeschwert.'"
Das freilich sollen alle Loitzer Eltern über ihre Kinder sagen können - umso schöner die halbe Million aus München, meint Sacks Amtsnachfolgerin Christin Witt. Sie bittet allerdings darum, noch nicht mit Lehrern, Direktoren, Kita-Erziehern oder Eltern über den Geldsegen zu sprechen. Schließlich befinde man sich gerade in den letzten Abstimmungen mit dem Münchner Nachlassverwalter und wolle erst ganz sicher gehen, dass die Pläne wirklich im Sinne von Werner Niemann sind.
Ein Teil seines hinterlassenen Privatvermögens soll in den Neubau eines Hortes am künftigen gemeinsamen Campus von Grund- und Regionalschule fließen, der andere Teil in die Sanierung der Kita "Mäusenestchen". Immerhin, so Christin Witt:
"Das Geld ist bei der Stadt Loitz. Das ist relativ zügig angekommen, nachdem die Sachwerte abgeholt wurden. Im Oktober also noch gekommen. Aber wie gesagt: Uns geht es jetzt einfach darum noch einmal zu konkretisieren und zu sagen: 'Das haben wir vor. Ist das auch wirklich das?' Um einfach auch eine Gewissheit zu haben, um das so einzusetzen."
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