Ljudmila Petruschewskaja: "Das Mädchen aus dem Hotel Metropol"

Jugend der Idylle, Jugend des Entsetzens

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Cover des Buches "Das Mädchen aus dem Hotel Metropol" von Ljudmila Petruschewskaja auf einem orange-weißem Aquarell-Hintergrund
Petruschewskaja schreibt autobiografisch über ihre Jugend in der Sowjetunion: Leichtigkeit noch bei der Schilderung der schlimmsten Demütigungen. © Cover: Schöffling & Co.
Von Gregor Dotzauer · 08.07.2019
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Ljudmila Petruschewskaja präsentiert in ihrem Buch autobiografische Vignetten und einen Ritt durch das sowjetische Jahrhundert. Noch den schlimmsten Demütigungen verleiht sie Leichtigkeit - und das in vibrierender Sprache voller farbiger Details.
Nein, dies ist nicht der "Roman einer Kindheit", wie der Untertitel behauptet. Ljudmila Petruschewskajas Erinnerungen "Das Mädchen aus dem Hotel Metropol" präsentieren sich vielmehr als lückenhafte, das brav Chronologische immer wieder durchbrechende Folge von autobiografischen Vignetten und Miniaturen.
Zugleich ist es ein Ritt durch das sowjetische Jahrhundert aus der Perspektive einer unbeugsamen Überlebenskünstlerin. Zwischen Stalins Schreckensherrschaft und Breschnews erstarrtem Neostalinismus beobachtet Petruschewskaja, wie sich der Kommunismus immer wieder von Neuem daran machte, ein ganzes Volk zu unterwerfen, zu verkrüppeln und im Zweifel zu vernichten.
Im Gegensatz zu ihren anderen Büchern und Theaterstücken hat die 1938 in Moskau geborene Autorin hier nichts fiktionalisiert. Ihre frühen Hunger- und Betteljahre sind aber sehr wohl literarisch imaginiert und reflektiert. Virtuos spielt sie mit grotesken und märchenhaften Elementen und verleiht noch den schlimmsten Demütigungen eine Leichtigkeit, als hätte sie eine ganz normale Kindheit erlebt.

Farbige Details, sinnliche Beobachtungen

Petruschewskaja, bei Kritik und Publikum als herausragende Stimme der zeitgenössischen russischen Literatur anerkannt, versteht sich auf eine unprätentiöse, fast alltägliche, von spontanen Eingebungen vorangetriebene Sprache. In überschaubaren Sätzen, die vibrieren vor farbigen Details und sinnlichen Beobachtungen, stehen Momente der Idylle unmittelbar neben Momenten des beiläufigen Entsetzens.
Das titelgebende Hotel Metropol, das unmittelbar neben dem Kreml noch heute Luxusgäste empfängt, war nach der Oktoberrevolution vergemeinschaftet worden und wurde von hohen Beamten der bolschewistischen Regierung und Mitgliedern der Kommunistischen Internationale bewohnt.
Als Petruschewskaja kurz nach ihrer Entbindung dort im Zimmer ihres Urgroßvaters Ilja "Dedja" Wegner, einem Arzt, mit ihrer Mutter Quartier bezog, hatten Stalins Säuberungsaktionen einen Höhepunkt erreicht. Viele Bewohner galten als Volksfeinde, wurden verhaftet, deportiert oder gleich ermordet – darunter zahlreiche Mitglieder ihrer Familie.
Eine lange Liste von gewaltsamen Todesarten durchzieht dieses Buch: Auch Dedja findet auf ihr seinen Platz: 1947 wird er wie so viele unter einen Lastwagen gestoßen. Zwei Jahre später ist er tot.

Ein wildes Mädchen bei der Oma

1941, nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, begleitet der Urgroßvater Ljudmila noch an die Wolga nach Kuibyschew, das heutige Samara, wohin die Familie evakuiert wird. Doch die Mutter verschwindet bald für vier Jahre zum Studium. Als wildes, von niemandem zu bändigendes Mädchen, wächst Ljudmila bei Tante und Großmutter auf.
Nach dem Krieg ist ein baschkirisches Kinderheim ihre nächste Station, und sie verbringt ganze Monate im Pionierlager. Noch die aufsässige Moskauer Journalistik-Studentin lebt der verletzbaren Unverletztlichkeit, die sie sich als Kind erworben hat.
Das von Antje Leetz vorzüglich übersetzte und kommentierte Buch enthält eine Fülle unvergesslicher Szenen. Wie Ljudmila im Bett der Großmutter Literaturunterricht erhält; wie sie als Zwölfjährige in einem Sanatorium für unterernährte Kinder der Vergewaltigung einer Jungenhorde um Haaresbreite entkommt und ein dreister Schönling das erste Begehren in ihr weckt; oder wie ein gewisser Sanytsch trotz drakonischer Prüfungsmethoden ihr Lieblingslehrer wird.
Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit, behauptet ein zwiespältiger Satz. Dieses Buch, erhellt von Ljudmila Petruschewskajas sinnlicher Prosa, bekräftigt ihn von ganzem Herzen.

Ljudmila Petruschewskaja: Das Mädchen aus dem Hotel Metropol. Roman einer Kindheit.
Aus dem Russischen von Antje Leetz.
Mit einem Nachwort von Olga Martynova.
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019
299 Seiten, 24 Euro

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