Literatur über die Fünfzigerjahre

Als homosexuelle Söhne verdroschen wurden

Eine Ausstellungshalle auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 1954.
In neuen Romanen werden die Fünfzigerjahre in allen Schattierungen einer biederen Gesellschaft gezeigt. © picture-alliance / dpa / Richard Koll
Irene Binal im Gespräch mit Joachim Scholl · 30.10.2018
Häkeldeckchen auf den Möbeln und kein Sex vor der Ehe: Mehrere Romane zeigen die Fünfzigerjahre drastisch und unnostalgisch. Besonders Christoph Hein gelingt es, die Doppelmoral jener Jahre nachzuzeichnen.
Joachim Scholl: Das Leben der Zwanziger-, der Dreißigerjahre, Krieg und Nachkrieg, die Sechziger- und Siebzigerjahre, über fast alle Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist literarisch viel und umfassend erzählt worden. Die Fünfzigerjahre bleiben dagegen relativ blass, was die Literatur angeht. Nun sind aber gleich mehrere deutsche Romane jüngst erschienen, die genau diese Zeitspanne in den Blick nehmen. Und für uns hat sich die Kritikerin Irene Bilal genauer angeschaut. Sie ist jetzt im Studio – guten Morgen!
Irene Binal: Guten Morgen!
Scholl: Die Fünfzigerjahre, da habe ich immer so Filmbilder im Kopf, deutscher Heimatfilm, harmlose Komödien-Klamotten, heile Wirtschaftswunderwelt, Nierentisch, Petticoat. Was verbinden Sie denn mit den Fünfzigern, Frau Binal?
Binal: Das ist ähnlich. Ich hab die Zeit natürlich nicht selbst erlebt, aber ich denke auch, wie Sie sagen, ans Wirtschaftswunder, an sehr rigide Moralvorstellungen auch, auch an eine gewisse Spießigkeit, Häkeldeckchen auf den Tischen, solche Dinge.
Scholl: Spiegelt sich denn dieses Bild der Fünfziger in diesen Romanen jetzt wieder?
Binal: Teilweise ja. Die Häkeldeckchen kommen direkt vor, und zwar bei Annette Hess in Ihrem Roman "Deutsches Haus". Der spielt so in den frühen Sechzigern, und es gibt eine Szene, in der Eva, die Protagonistin, ihrer Familie ihren Verlobten vorstellt. Und das ist dann wirklich so ein klassisches Szenario. Da wird eine Gans serviert und das Dresdner Geschirr aufgedeckt, und auf den Möbeln liegen überall diese Häkeldeckchen herum. Das ist fast klischeehaft. Evas Verlobter will auch keinen Sex vor der Ehe und will auch nicht, dass Eva arbeitet. Da zeichnet Annette Hess dieses enge Milieu gut nach. Oder auch, wenn man sich den Roman von Brigitte Riebe ansieht, "Die Schwester vom Ku'damm. Jahre des Aufbruchs". Das ist der erste Teil einer Fünfzigerjahre-Trilogie um eine Kaufmannsfamilie, die eben ihr zerstörtes Kaufhaus wieder aufbauen will. Und die älteste Tochter Rieke ist da quasi federführend, tritt aber nicht als Mannequin auf, wie man es damals erwartet eigentlich, sondern eben als Geschäftsfrau. Das irritiert dann auch manchen. Da geht es also auch um diese strenge Gesellschaftsordnung.

Der Vater verdrischt homosexuellen Sohn mit der Riemenpeitsche

Scholl: Das heißt, die Fünfzigerjahre werden schon so gezeigt, wie man sie sich eigentlich vorstellt? Werden da Klischees bedient?
Binal: Ich würde sagen, sie werden eher konterkariert, denn es sieht natürlich hinter Häkeldeckchen und Familienidyll dann ganz anders aus. Wenn man etwa Christoph Heins Roman "Verwirrnis" ansieht, da geht es um zwei Jungen, die einander lieben. Das war in den Fünfzigern natürlich ein gewaltiges Tabu, es stand unter Strafe. Und Hein zeigt eben, wie diese jungen Männer sich verstellen müssen, sich verstecken müssen. Jetzt hat einer der beiden noch einen ganz streng religiösen Vater, der die Söhne regelmäßig mit der Riemenpeitsche verprügelt und das auch noch ganz gerechtfertigt findet. Und als dann die Liebe dieser beiden jungen Männer auffliegt, ist es natürlich eine Katastrophe. Da kommt diese Doppelmoral heraus. Nach außen alles schick, und dahinter sind die Abgründe. Oder auch, wenn man Mechtild Boormanns Roman "Grenzgänger" ansieht, da kommt der Vater traumatisiert aus dem Krieg zurück, die Kinder können nicht auf ihn zählen. Die älteste, Henni, beginnt Kaffee zu schmuggeln, um die Familie zu ernähren. Dann wird ihre Schwester erschossen, und Henni und ihre Geschwister kommen ins Kinderheim, in die Besserungsanstalt. Und dort werden die Kinder dann unter dem Deckmantel der christlichen Nächstenliebe ganz übel misshandelt. Das ist so ganz gegen dieses süßliche Klischee, wie nett und fein und proper doch die Fünfziger waren. Da zeigt sich, was hinter der Fassade schlummert.
Scholl: Heute erscheinen ja vielen die Fünfziger so ein bisschen so als eine gewisse Sehnsuchtswelt, als die Welt noch in Ordnung war. Politiker beschwören dann auch immer noch so die heile Familienwelt. Aber diese Idee der Fünfziger oder dieses Klischee der Fünfziger, das wird offensichtlich zurechtgerückt.
Binal: Ja. Ich denke, die Fünfzigerjahre, wenn wir die heute als Sehnsuchtszeit sehen, liegt auch vielleicht daran, dass es dieses technologischen Entwicklungen nicht gab. Die Welt war langsamer, man konnte viel leichter Schritt halten. Aber es war eben auch die andere Seite da, diese Doppelmoral, die gesellschaftliche Enge und auch das harte Leben. Denn die Wunden des Krieges waren ja noch lange nicht verheilt. Das sah man ja an den Stadtbildern. Das beschreibt Elke Vesper sehr gut im fünften Band ihrer "Wolkenrath"-Familiensaga, "Verlust und Aufbruch". Da gibt es eindringliche Beschreibungen von völlig zerstörten Städten wie Hamburg oder Dresden. Oder auch bei Brigitte Riebe, da arbeitet Rieke als Trümmerfrau. Das war eine körperliche Anstrengung, die kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Es gibt nicht genug zu essen, man muss sich für alles stundenlang anstellen. Man hat Angst um die Männer, die im Krieg geblieben sind, die noch nicht zurück sind. Da gab es viel Not, viel Zerstörung. Das war nicht nur der glorreiche Aufbruch.

Figuren, die einst für Hitler und nun für Adenauer schwärmen

Scholl: Man wurde aber ja nicht nur mit der Zerstörung konfrontiert. Es ging ja auch um die Bewältigung der Nazi-Vergangenheit, über die zumeist geschwiegen wurde in der Öffentlichkeit. Spielt das auch eine Rolle? Muss ja eigentlich.
Binal: Ja, ja. Bei Annette Hess zum Beispiel arbeitet Eva als Übersetzerin bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen und findet heraus, dass ihre Familie da auch nicht ganz unbeteiligt war. Und da wird gerade dieses Nicht-reden-wollen sehr schön thematisiert. Da heißt es an einer Stelle wörtlich, Zitat: "Ich habe so eine kleine Kammer hier drin, da habe ich alles reingepackt und das Licht ausgemacht und die Tür abgeschlossen." Und das taten ja ganz viele Deutsche. Man wollte sich nicht erinnern, man wollte nicht über die Vergangenheit reden. Fragen der Kinder wurden auch abgeblockt. Und dieses Verhältnis Eltern/Kinder, das kommt bei Frank Goldammer sehr schon heraus. Er hat eine Krimiserie geschrieben, die eben in den Fünfzigern spielt. Der nächste Band, "Roter Rabe", erscheint im Dezember. Und da gibt es einen Kommissar Heller in Dresden, und dessen Sohn fragt seinen Vater an einer Stelle, warum er sich denn nicht gegen die Nazis gestellt habe. Und Heller sagt, er habe für seine Familie sorgen müssen. Es sei auch aussichtslos gewesen, er wäre im KZ gelandet. Aber das reicht seinem Sohn nicht. Und das ist ein spannender Dialog, der zeigt, wie tief diese Gräben zwischen Eltern und Kindern oft waren. Auch bei Elke Vesper, wo sich dieser Riss durch die ganze Wolkenrath-Familie zieht. Da gibt es eine frühe glühende Hitler-Verehrerin, die inzwischen für Adenauer schwärmt, einen jüdischen Arzt, der sich an die Verfolgung, an die KZ-Zeit erinnert. Da hat ja die Nazizeit ein ungeheures Trauma ausgelöst. Das hat Elke Vesper im Gespräch auch schön gesagt: Erst gab es die Verlockung der nazistischen Erhöhung der Deutschen als Herrenrasse, und dann das Gegenteil, die narzisstische Erniedrigung. Und im Osten kam dann noch dazu, dass die Sowjets., die ehemaligen Todfeinde, plötzlich die Herrscher waren. Und um mit alldem umgehen zu können, wurde eben gerade in den Fünfzigern extrem viel verdrängt.
Scholl: Ein anderes großes Thema der Fünfziger war natürlich auch die deutsche Teilung. Inwieweit wird das denn angesprochen?
Binal: Das spielt eben in diesen angesprochenen Goldammer-Krimis eine Rolle. Dieser Heller ist, wie erwähnt, Kommissar in Dresden, muss sich mit den sowjetischen Machthabern auseinandersetzen, zieht dabei auch immer wieder interessante Parallelen zum Dritten Reich – Paranoia der Regierenden, dauernde Verdächtigungen. Und diese Teilung betrifft eben auch die Polizeiarbeit, wenn Heller auf einmal Westberliner Boden nicht mehr betreten darf. Auch im Roman von Christoph Hein ist die Teilung sehr deutlich. Einer der beiden jungen Männer geht in den Westen, der andere bleibt im Osten. Als dann die Mauer hochgezogen wird, trennt sie dieses Liebespaar, und zwar unwiderruflich. Oder eben auch bei Elke Vesper – die Hauptfigur Stella fährt immer wieder in ihre Geburtsstadt Dresden. Ihre Tochter und ihre Enkelin sind beide ganz fanatische SED-Anhängerinnen. Da sieht man gut, wie eben diese Teilung Familien geteilt hat lange vor dem Bau der Mauer. Und natürlich ist dieser Kalte Krieg auch immer so ein Hintergrundrauschen. Man darf jetzt nicht vergessen, dass damals die Kriegsangst sehr groß war. Frank Goldammers Kommissar Heller bemerkt an einer Stelle, dass überall auf der Welt schon wieder die Lunten schwelen. Da herrschte viel Angst, und auch das widerspricht so ein bisschen diesem schicken Fünfzigerjahre-Bild.

"Viele glorifizieren die Fünfzigerjahren inzwischen"

Scholl: Was sind denn das aber jetzt für Autoren, Irene Binal, die über diese Fünfziger schreiben? Sind das Menschen, die sich noch dran erinnern können, oder aber auch so wie wir, die später Geborenen?
Binal: Teils, teils. Autoren wie Christoph Hein erinnern sich natürlich noch daran. Er hat ja schon mehrfach über diese Zeit geschrieben. Da spielt seine Biografie immer auch hinein. Brigitte Riebe hat ein paar Kindheitserinnerungen an die Fünfziger, an Nylons und so raschelnde Petticoats und diese Alles-ist-gut-Stimmung, die sie eben dann in ihren Büchern untersucht. Ähnlich bei Elke Vesper. Da hat die Familie Wolkenrath den Krieg fast unbeschadet überstanden, alle sind am Leben, aber es brodelt eben auch unter der Oberfläche. Der jüdische Arzt überlegt, auszuwandern, weil all die Nazis jetzt wieder in öffentlichen Positionen sitzen. Also da untersucht Vesper auch die unterschwelligen Wunden, die sie selbst gespürt hat als Kind, als Jugendliche. Dann gibt es natürlich auch Autoren, die später geboren sind, die gar keine Erinnerungen haben. Bei Mechthild Borrmann zum Beispiel waren es alte Fotos aus Kinderheimen, die sie auf dem Flohmarkt entdeckt hat, und daraufhin hat sie begonnen, zu recherchieren. Bei Frank Goldammer war es ein Großonkel, der urplötzlich anfing, zu erzählen, und das hat Goldammer dann so interessiert, dass er seine Krimireihe schrieb. Und Annette Hess ist ja auch sehr viel später geboren, da war der Auslöser dann die Veröffentlichung der Tonbanddokumente dieses Auschwitz-Prozesses. Sie wollte eigentlich eine Fernsehserie draus machen, merkte dann, dass sie mehr Raum brauchte und hat dann eben den Roman "Deutsches Haus" geschrieben.
Scholl: Es gab zwar immer wieder Romane über die Fünfziger, aber doch mehr über andere Jahrzehnte. Woran, Frau Binal, könnte es denn liegen, dass sich zurzeit also wirklich mehrere Autoren jetzt genau eben mit dieser Epoche, mit dieser Dekade befasst haben? Was glauben Sie?
Binal: Ich könnte mir vorstellen, dass es an den Befindlichkeiten unserer heutigen Zeit liegt. Das ist ja alles recht unsicher, das ist schwankender Boden. Viele Menschen, wie wir vorher auch gesagt haben, glorifizieren die Fünfziger inzwischen ein bisschen. Überschaubare Welt, großer Wirtschaftsaufschwung und so weiter. Ich könnte mir vorstellen, das ist natürlich für Autoren dann spannend, mal genauer hinzuschauen und zu sagen, ja, war denn das wirklich so großartig? Und dann stellt sich eben heraus, dass es dass unter Umständen überhaupt nicht war. Und ich glaube, das ist das Allerwichtigste an diesen Büchern, dass sie diese Nostalgie zurechtrücken, dass sie Aspekte der Fünfzigerjahre beleuchten, die wirklich nicht erstrebenswert sind, wie eben die Kriegsangst, wie die Zerstörung, wie die große Not, wie auch diese Doppelmoral, die rigiden Vorstellungen diesbezüglich. Und vielleicht wird der eine oder andere Leser durch solche Romane wieder daran erinnert, dass jetzt vieles an unserer Zeit so schlecht gar nicht ist. Dass wir natürlich sehr viel mehr Freiheiten haben, dass wir natürlich sehr viel mehr Spielraum haben für Individualität, und dass es auch nichts bringt, die Vergangenheit zu verklären. Weil das natürlich erstens so gar nicht stimmt, und weil es uns – seien wir mal ganz ehrlich – in unserer Gegenwart heute auch nicht wirklich weiterhilft.

Riemenpeitsche für den Sohn

Scholl: Ich muss sagen, dass ich solche Romane liebe, die mir von Zeiten erzählen, die ich nicht erlebt habe, und dann mir doch oft wirklich ein Bild der Epoche malen und vielleicht auch so den Geschmack vielleicht wiedergeben. Was würden Sie sagen, wenn ich jetzt vom Mars käme, Frau Binal, und sagte, es soll hier Bücher über die Fünfziger geben, welches soll ich mitnehmen in mein Raumschiff, und dann weiß ich, wie die Fünfziger waren. Was würden Sie sagen? Sie haben uns so eine schöne Liste zusammengestellt, die wir auch ins Internet stellen werden, über die vielen besprochenen Romane. Aber welcher wäre der Roman, wo Sie sagen, das ist eigentlich so der, den muss man lesen, dann weiß man Bescheid.
Binal: Das ist natürlich wahnsinnig schwierig zu beantworten, so einfach ist das nicht. Ich würde Christoph Hein empfehlen, weil er diese Doppelmoral so zeigt, dieses – nach außen ist der Vater dieses einen Jungen ein sehr anerkannter, gesellschaftlich etablierter Mann. Alles schön, er wird geachtet und so weiter. Und im Geheimen packt er die Riemenpeitsche aus und prügelt seinen Sohn, dass es nur so draufgeht. Also das, finde ich, macht es sehr schön. "Die Schwestern vom Ku'damm", das sind dann halt eher so große Geschichten von Familien. Wie gesagt, ich finde, Christoph Hein macht das gut. Und wenn ich über den Osten was wissen will, dann wäre die Frank-Goldammer-Krimiserie genau das Richtige.
Scholl: Romane über die 50er-Jahre. Irene Binal hat uns einen aktuellen Überblick gegeben. Vielen Dank Ihnen. .
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Literaturhinweise

Annette Hess: "Deutsches Haus", erschienen im Verlag Ullstein, Berlin 2018, 368 Seiten, 20 Euro

Mechtild Borrmann: "Grenzgänger", erschienen im Verlag Droemer, München 2018, 288 Seiten, 20 Euro

Christoph Hein: "Verwirrnis", erschienen im Verlag Suhrkamp, Berlin 2018, 303 Seiten, 22 Euro

Frank Goldammer: "Vergessene Seelen – Ein Fall für Max Heller", erschienen bei dtv, München 2018, 379 Seiten, 15,90 Euro

Frank Goldammer: "Roter Rabe – Ein Fall für Max Heller", erscheint am 21. Dezember 2018 bei dtv München, 381 Seiten, 15,90 Euro

Elke Vesper: "Verlust und Aufbruch – Die Geschichte der Wolkenraths" (Band 5), erschienen im Verlag Krüger, Frankfurt 2018, 719 Seiten, 22 Euro

Brigitte Riebe: "Die Schwestern vom Ku‘Damm – Jahre des Aufbaus", erscheint im Verlag Wunderlich, Hamburg, am 23. Oktober 2018, 430 Seiten, 19,95 Euro

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