KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe Literatur Titel der Sendung Noch dreieinhalb Tage bis zum jüngsten Gericht Schulamokläufe im Roman AutorIn: Sabine Voss Redakteurin Dorothea Westphal Sendetermin 10.04.2012 Regie Clarisse Cossais Besetzung Sprecherin (Kommentar) /Zitator und Zitatorin O-Töne Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Sabine Voss Noch dreieinhalb Tage bis zum Jüngsten Gericht Schulamokläufe im Roman Musikakzent 1 Zitator Was für ein Spaß ist das Leben ohne einen kleinen Tod? Es ist interessant, wie es ist, wenn ich in meinem menschlichen Zustand bin und weiß, dass ich sterben werde. Alles hat jetzt einen Hauch von Trivialität. Zum Beispiel, dass nichts von diesem Mathescheiß mehr wichtig ist. So, wie es sein sollte. Aus dem Tagebuch von Dylan Klebold O-Ton 1 Ines Geipel Zunächst hat man das Gefühl, das sind Jungs, die ihren Ort suchen, die begabt, kreativ sind, einen hohen IQ haben, technisch sehr versiert, sehr wach, sehr schnell sind, wofür sie keine Räume finden, wofür sie keine Übersetzung finden und es sehr sehr schwer haben, den Ort zu finden, der für sie in Schulen gut ist, wo sie sich angenommen fühlen. O-Ton 2 Myriam Keil Ich kenne diese Problematik eben selbst aus meiner Schulzeit, ich war auch Außenseiterin und bin teilweise auch gemobbt worden und hab mich nie verstanden gefühlt. Unabhängig von Amokläufen, gibt es das ja ständig an Schulen. Musikakzent 1 Zitator Die Wahrheit ist: In 26,4 Stunden werde ich tot sein & im Glück. Die kleinen menschlichen Zombie-Schwuchteln werden ihre Irrtümer erkennen & für immer leiden & trauern. HAHAHA, natürlich werde ich Sachen vermissen. Nicht wirklich. Aus dem Tagebuch von Dylan Klebold O-Ton 3 Joachim Gärtner Ich hab aufgrund der Selbstbeschreibung dieser Täter in ihren Tagebüchern und Phantasien hatte ich eher das Gefühl einer relativ großen Nähe zu diesen Tätern: Das sind quasi normale, natürlich hochgradig beziehungsgestörte Menschen, aber die zumindest in ihrer Phantasiewelt Vieles von dem, was ich auch aufgenommen hab in ähnlicher Weise ausphantasieren wie ich. Musikakzent 2 Zitator Die Glock steckt hinten in meinem Gürtel. Keiner zu sehen, und schon bin ich an der Tür. Ich klinke, verschlossen. Das gibt's doch nicht! Wieso schließen die Drecksäue ab? Ich renne ums Gebäude, die Sporttasche schlägt gegen mein Bein, kurz überlege ich, einen Sprengsatz an der Tür zu platzieren, ist aber eine massive Holztür, ein Riesending, in dem Gebäude in Winnenden waren alle Türen aus Glas, die hätte ich mit der Pumpgun durchblasen können, aber egal, ich bin nun mal hier. Ihr könnt mir gar nichts, ihr Schweine! O-Ton 4 Clemens Meyer Mit dem Begriff des Bösen würd' ich bei solchen Fällen niemals versuchen zu jonglieren oder so, aber es ist schon doch eine gewisse Faszination, die davon ausgeht, dass junge Leute auf nem gewissen Unschuldsstand dann eben losgehen und solche Taten begehen und eben auch im Internet oder in ihren Tagebüchern mit so 'ner Kaltblütigkeit darüber sprechen, als wär' es eben alles nur virtuell, ja. Sprecherin In der Bundestagsdebatte um den Amoklauf am Erfurter Gutenberggymnasium im Jahr 2002 ordnete Bundeskanzlerin Angela Merkel die Tat Robert Steinhäusers als eine Einzeltat ein, die sich jedem rationalen Zugang entziehe. Wer versuche, eine solche Tat erklärbar zu machen, laufe Gefahr, sich auf die Seite des Täters zu stellen. Zehn Jahre später rangiert Deutschland mit neun Schulamoktaten hinter den USA, wenn auch mit Abstand, auf Platz zwei. O-Ton 5 Ines Geipel Die Diskussion bei jedem neuen Amoklauf ist ja: Der Täter ist krank, er ist zu psychiatrisieren, er ist das Böse, er ist das Andere, das Fremde, und indem ich versuche, die jeweilig einzelne Geschichte, das lange Gewordensein bis hin zur Tat in Sprache zu bringen, ist es einerseits der Versuch, das Non-Verbale um diese Tat, dem Non-Verbalen eine Sprache oder Erzählung zu geben, aber auch diese einzelnen Taten nicht einfach abfolgen zu lassen wie Folien, und wir sind außen vor und sind froh, dass wir möglichst weit entfernt sind. Sprecherin Die Autorin Ines Geipel hat in ihrem Buch "Der Amok-Komplex" die drei deutschen Schulamokfälle in Erfurt, Emsdetten und Winnenden noch einmal aufgerollt, um die Genese dieser Taten nachzuvollziehen. Sie konnte die unveröffentlichten Ermittlungsakten auswerten, hat die Tatorte aufgesucht, zahllose Gespräche mit Lehrern, Kommunalpolitikern, Schulpsychologen geführt und immer wieder mit Jugendlichen gesprochen. O-Ton 6 Ines Geipel Die kamen dann mit ihren Lederjacken, "wir sind auch Robert Steinhäuser", herausfordernd, nicht stolz, "wir sind das". Das heißt aber doch nicht, dass Jugendliche generell zu diesen Amoktaten prädestiniert sind. Das ist Quatsch, das sind trotzdem immer Ausnahmen, ganz extreme Katastrophen, menschliche Katastrophen, und das hab ich auch versucht, mit dem Buch möglichst auszulegen, wie lang doch die Genese ist für jeden dieser Fälle und dass das jedes Mal neu ein ganz eigener Kosmos ist auch, wenn man zwischen den einzelnen jugendlichen Schützen Parallelen ausmachen kann, sind es doch immer sehr sehr singuläre Fälle. Sprecherin Als Parallelen macht Ines Geipel das Gefühl dieser jugendlichen Täter aus, in ihrem Leben nicht geborgen zu sein, das Abgelehnt-Sein in der Schule, aber auch die Schwierigkeit, Beziehungen zum anderen Geschlecht, zu gleichaltrigen Mädchen aufzunehmen, das Herausfallen aus echten Bindungen und am Ende aus der Welt. O-Ton 7 Ines Geipel Parallel ist diese lange Schläferzeit im Internet, also diese lange Vorbereitungszeit, diese jugendlichen Täter koppeln sich ab, entkoppeln sich von sozialen Zusammenhängen, um im Grunde diese Wucht, die sie brauchen, um im Grunde diese Empathielosigkeit, die sie brauchen, regelrecht zu trainieren. Musikakzent 2 Zitator BLAMM BLAMM BLAMM, liegt gut in der Hand so eine Glock, also misch ich eben die Bullen auf, wenn ich schon nicht in die Schule reinkomme. PENG PENG, da schießen die doch sofort auf mich, ganz anderer Sound die Bullenknarren, viel leiser und höher, Mensch, reißt euch zusammen, ich bin doch fast noch ein Kind, ZIPP, ZING; DING, da pfeifen die Kugeln an mir vorbei, prallen gegen den Metallzaun an der Raucherinsel. Ich marschier einfach weiter, knalle ein zweites Magazin leer, sehe die Bullen wegspringen, in Deckung gehen, mindestens einen hab ich erwischt, schön wie mein offener Ledermantel weht! O-Ton 8 Clemens Meyer Ich brauchte diese Ebene, um eine gewisse Distanz zu wahren, und das ist eben das Computerspiel. Weil ich dachte, wie kann ich mich in den Kopf von so jemanden rein begeben, ohne dass ich jetzt sage, ich bin jetzt der - was ich nicht will -, dass ich auch ich bleibe, dass mein Ich, Erzähler-Ich - ob das jetzt Clemens Meyer ist oder jemand anders... -, erhalten bleibt, und dass ich aber trotzdem den Protagonisten dieses Amoklaufs begleiten kann. Also dachte ich, ok., dann spiele ich ihn nach, dann mach's als Computerspiel. Dann hast du die Freiheit, du kannst frei Schnauze im Prinzip erzählen, kannst dich dem Thema mit 'ner Lustigkeit, die natürlich immer wieder umkippt, nähern. Sprecherin Der Autor Clemens Meyer hat in seiner satirischen Erzählung "German Amok" ein gleichnamiges Computerspiel erfunden, dass es noch nicht gibt: Der Ich-Erzähler ist ein Spieler, der sich in einen Schulamokläufer hineinversetzt. Dessen Gegner ist die Polizei, die den Amoklauf zu vereiteln versucht. Bevor er die Erzählung schrieb, hat sich Clemens Meyer einem Selbstversuch mit sogenannten "Killerspielen" ausgesetzt, die unter Spielern Ego-Shooter heißen. Der Spieler spielt dabei aus der Ich-Perspektive und identifiziert sich mit einer Hand, die über den Bildschirmrand hinein ins 3D-Bild ragt. Mit dieser Hand kann er Waffen wählen, wechseln, laden, schießen. Er schaut über den Gewehrlauf hinweg, während er durch eine virtuelle Szenerie läuft. Warum nicht durch die Flure und Räume einer Schule? fragte sich Clemens Meyer. Warum nicht ein Ego-Shooter mit der Figur "Robert", der in seiner Schule Schüler und Lehrer abschießt - vorausgesetzt natürlich, er kommt überhaupt so weit und es gelingt ihm, in die Schule einzudringen. Musikakzent 2 Zitator Ich sitz jetzt schon seit Wochen vorm Rechner und versuche, in eine der Schulen zu kommen, die zur Auswahl stehen, aber das ist wirklich nicht einfach. Als ich es zum ersten Mal versucht habe, wurde ich schon festgenommen, da war ich kaum aus dem Haus mit meiner Sporttasche und dem schwarzen Ledermantel. Hat einfach zu viel Lärm gemacht, wie ich Vatis Waffenschrank mit der Axt aufgebrochen habe. Ein Bekannter hat mir mal erzählt, und der hat auch mit Robert gespielt, genau wie ich (die meisten spielen mit Robert, habe ich gehört, obwohl auch die Austauschschüler Eric und Dylan sehr beliebt sind), dass er beim ersten Mal einfach mit der Axt losgezogen ist, einfach nur die Axt unter die Jacke und dann rein in die Abiturprüfungen. Ich weiß nicht mehr, was der für einen Bodycount hatte, bevor sie ihn stoppen konnten, aber war schon beeindruckend. O-Ton 9 Clemens Meyer Wie man den besten Bodycount erzielt, das ist eigentlich absurd. Die leben in Parallelwelten, das ist unglaublich. Ich würde nie so weit gehen und sagen, das löst Amokläufe aus, es ist höchstens ein Teil dieser gesellschaftlichen Situation, in der so was passiert, aber das ist vollkommen absurd, wie man da redet, was da für Jargons herrschen. Headshot und solche Sachen, Headshot, ist ganz wichtig, Headshot. Und die Idee, ich find es gar nicht so fern, dass es mal so ein Spiel geben kann. Sprecherin Inzwischen können Schulen "gemappt" werden. Die Baupläne der eigenen Schule werden in ein Spiel wie Counterstrike oder Doom eingefügt, so dass die Figuren auf dem Schulgrundriss spielen. Aber auch Räume und Szenerien lassen sich am Computer erfinden und gestalten. Musikakzent 1 Zitator Doom ist ein Ego-"Shoot-em-up"-Spiel. Also, man läuft in der Gegend herum und schießt mit militärischer Ausrüstung auf Monster. Für die meisten Leute mag das irgendein dummes Computerspiel sein, aber für mich ist es ein Ventil für meine Gedanken und Träume. Ich habe es geschafft, alles Mögliche in diesem Spiel neu zu entwerfen, die Schnelligkeit der Waffen, die Stärke und Masse der Monster, die Oberflächen und Farben der Böden und Wände und - das ist das Größte - die ganze Szenerie, in der es spielt. Mehrere Male habe ich in der Nacht von einem Ort oder einer Gegend geträumt, dann tagelang darüber nachgedacht und es in Doom nachgebaut. Aus einem Schulaufsatz von Eric Harris O-Ton 10 Joachim Gärtner Was mich sehr beeindruckt hat, war ein Aspekt, der in den meisten Darstellungen von Columbine gar nicht vorkommt, nämlich der ursprüngliche Plan der beiden Attentäter, die das Attentat ganz anders geplant hatten, als es letztlich ausgeführt wurde. Sie hatten nämlich geplant, Bomben in der Schule zu deponieren mit Zeitzündern, die dann explodieren sollten, und sie wollten sich außerhalb der Schule, wo eine große Wiese ist, wo in der Pause die Schüler sitzen und, ja, Brotzeit machen und spielen, dieser Ort der Ruhe und Erholung, der sollte zum großen Schlachtfeld werden. Sie wollten sich vor dem Eingang der Schule aufstellen mit ihren Waffen, mit ihren abgesägten Schrotflinten, mit ihren Pumpguns und wollten dann auf die Schüler, die dann in Panik, so wie sie sich das vorgestellt haben, vor den Explosionen der Bomben fliehen, wollten sie niedermähen. Sprecherin Doch die Zünder der Bomben funktionierten nicht, das Massaker fand in der Caféteria der Columbine High-School in Littleton statt. In seinem dokumentarischen Buch "Ich bin voller Hass - und das liebe ich" montiert der Journalist und Autor Joachim Gärtner Ausschnitte aus Interviews, die er mit einem FBI-Psychologen, der Leiterin der polizeilichen Ermittlungen und einem Schulkameraden geführt hat, mit Tagebucheintragen, Weblogs, Schulaufsätzen, Videobotschaften der beiden Columbine-Täter, Eric Harris und Dylan Klebold, denen aufgrund ihres beeindruckend umfangreichen Nachlasses eine weltweite massenmediale Verbreitung ihrer 1999 begangenen Schreckenstat gelang. O-Ton 11 Joachim Gärtner Viele der Dokumente lassen sich chronologisch gar nicht zuordnen, weil sie nicht datiert sind. Das war überhaupt ein großes Problem, aber auch eine große Chance sozusagen, als ich diese Dokumente bekam, die bekam ich ja weitgehend ungeordnet, die Polizei hat die einfach hintereinander abgeheftet, und ich stolperte dann sozusagen durch völlig unzusammenhängende uneinheitliche Dokumente, von Tagebuchaufzeichnungen bis hin zu Einkaufszetteln von Propangasflaschen, die sie noch am Tag der Tat in der Früh gekauft haben, über Quittungen, Schulaufsätze, Liebesbriefe usw. und musste das sehr sehr mühsam erst mal entziffern, das meiste war handschriftlich, und dann versuchen, sie in irgendeine Beziehung zueinander zu setzen. Musikakzent 1 Zitator Aus dem Schulkalender von Eric Harris: Mittwoch, 23. September Shakespeare lesen. "Erlkönig" auswendig lernen! Samstag, 26. September C.U. football game Dienstag, 29. September Rohrbombe ausprobieren. Problem mit Rauch lösen. Zweiten Bunker finden Donnerstag, 1. Oktober Donuts backen für Oktoberfest Samstag, 3. Oktober Waffenmesse Denver Merchandise Mart Sonntag, 4. Oktober Lesen wie Hölle O-Ton 12 Joachim Gärtner Und dabei passierte etwas sehr Eigenartiges und sehr Interessantes, fand ich, und das war eigentlich das Wesentliche, warum ich es in diese Montageform gebracht hab, denn man versucht, Dinge zuzuordnen zueinander, dann macht man sich Gedanken darüber, die Widersprüche und diese Zerrissenheit der Täter, wie kriegt man die im eigenen Kopf zusammen? Das heißt, man füllt die Leerstellen, die zwischen den Dokumenten stehen, mit Phantasien. Meine eigene Phantasie fängt an, ne Geschichte zu erzählen, und ähnlich, stelle ich mir vor oder hoffe ich, geht es einem Leser, der diese Dokumente natürlich quasi in einer dramaturgischen Anordnung liest, dass er versucht, Beziehungen zwischen den einzelnen Dokumenten herzustellen, um für sich selber eine Geschichte zu erzählen und sich wie in eine Romanfigur hineinzudenken, die dann etwas tut, was man selber sicherlich nicht tun würde. Sprecherin Das Leben der beiden Attentäter wird auf diese Weise zu einer Erzählung, die im Kopf des Lesers mittels seiner Gefühle und Gedanken über die Täter entsteht. Joachim Gärtner nennt seine Textmontage deshalb auch einen "dokumentarischen Roman". Dass die beiden jugendlichen Täter enorm produktiv waren, massenhaft viel geschrieben haben, steht in einer Diskrepanz zu ihrem abgrundtiefen Schweigen: Die beiden Jugendlichen reden unaufhörlich in eine anonyme Welt hinein, ohne sich irgendjemandem mitzuteilen, Freunden, Eltern, Lehrern. Allenfalls reden die beiden Gleichgesinnten miteinander. Seitdem das FBI mit Einverständnis der Überlebenden und Hinterbliebenen den Nachlass zu Aufklärungszwecken ins Internet gestellt hat, sprechen Eric Harris und Dylan Klebold auch weltweit Sympathisanten an. Musikakzent 1 Zitator Eric Harris: Der wohl vernünftigste Junge, den eine beschissene Highschool bieten kann. ERIC HARRIS IST GOTT! Da gibt es keinen Zweifel. Es ist erschreckend, wie ähnlich Eric mir war. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich sein Leben noch mal leben. Aber ich bin keine Kopie von Eric, Dylan, Steini, Gill, Kinkel, Weise oder sonst wem! Ich bin die Weiterentwicklung von Eric! Aus seinen Fehlern habe ich gelernt, die Bomben. Aus seinem ganzen Leben habe ich gelernt. Aus dem Tagebuch von Sebastian Bosse, dem Amoktäter von Emsdetten Sprecherin Das hoffnungslose Leben mit einem bleibenden Eindruck beenden und Teil der großen Geschichte der "School Shootings" sein! Um das zu erreichen, gleichen Amoktäter ihre Kleidung an die Vorgänger an - den schwarzen Trenchcoat oder den langen "Matrix"-Mantel, die Handschuhe ohne Finger, das umgedrehte schwarze Basecap, aber auch ihre Waffen und den gewählten Zeitpunkt der Tat. In den Schulamokläufen gibt es ein Top-System, ein Ranking, sehr lange war Columbine auf Platz eins, Erfurt auf Platz zwei, was zählt, ist die Menge der Opfer. O-Ton 13 Ines Geipel Wie ticken diese Jungs? Sie ticken analog der Effizienzlogik unserer Gesellschaft. Sie gehen auf das Maximum von Resonanz, die Schützen würden sagen, es geht um das genaue Trefferfeld. Und in Deutschland zumindest ist es so, dass die Schulen nach wie vor ganz starke Resonanzräume sind, weil du mit der Schule im Grunde alles hast: Du hast die Politik, du hast die Eltern, die Lehrer. Die ganze Gesellschaft im Grunde ist im Alarm. Und deswegen glaube ich nicht nur einerseits, dass wir diese nach wie vor stark austrainierte Schule der Beschämung haben, sondern sie wissen, dass sie dort viel Resonanz ziehen können und deswegen agieren sie, glaube ich, oft auch an Schulen. Musikakzent 2 Zitator "Das ist eines Gymnasiasten nicht würdig!" Sie meinten meine Gerichts- und Polizeivorladungen, ja, mein Gott, wir alle machen mal Fehler. Als ich die Löschung meines Direktorenverweises beantragen musste, habe ich den Antrag am Morgen auf einen Zettel geschrieben, per Hand, versteht sich, das war so 1995, damals hatte nicht jeder einen Computer oder eine Schreibmaschine, also eine Schreibmaschine hatte ich schon, aber die nahm ich nur für meine Gedichte und Geschichten, ich werde ins Direktorat geholt, und dort nehmen sie mich richtig in die Mangel. Sprecherin Zunehmend vermischt und vermengt der Ich-Erzähler und Spieler von "German Amok" das virtuelle Erleben mit seiner biografischen Wirklichkeit. Seine Erinnerungen an die eigene Schulzeit werden zum Antrieb in einem Spiel, das dem Spieler verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung stellt, um beispielsweise virtuelle Rache an seinem Schuldirektor zu üben: Der Ich-Erzähler könnte ihn auf allen Vieren kriechen lassen - was ihm dann aber doch zu geschmacklos ist. O-Ton 14 Clemens Meyer Das erste, was ich gemacht, als ich aus der zwölften Klasse raus war, mein Abitur gemacht hab, ich habe nachts mit Steinen die Scheiben eingeschmissen dort - das kann ich sagen, weil's die Schule nicht mehr gibt. Die ist zu. Das war der erste Impuls, mal nachts die Scheibe einschmeißen, im Erdgeschoss. War nicht in Ordnung. Aber klar, so geht's los. O-Ton 15 Ines Geipel Also das Mobbing-Problem an den Schulen ist doch ein sehr reales. Wenn man diese Fälle recherchiert, namentlich bei den deutschen Schulamokläufen, gibt es immer eine reale Schule der Beschämung. Steinhäuser, das haben mir auch Lehrer noch mal erzählt, dass sie mehrfach dazwischen gegangen sind, weil er doch von der Klasse sehr gemobbt wurde. Das sind jetzt die Fälle die wir kennen, aber diese Kultur der Beschämung ist verbreiteter oder austrainierter als wir uns bereit sind zu erzählen. Musikakzent 1 Zitator Die Scheiße hat sich gelegt, wie ein Sturm, der alles zerfetzt und nur noch ein Regen ist. Damals war es schlimmer, das 5. bis 8. Schuljahr war das extremste. Doch die Wunden sind geblieben, nicht nur körperliche, nein, meist seelische Wunden und die Frage: Warum hat man das getan, quält mich noch heute. Die meisten wissen es nicht, dachten, ich gehe jeden Tag in die Schule, mache nicht mit und geh wieder nach Hause. Das einzige Mal, dass wirklich was nach außen drang, war als man mir einen glühenden Fahrradschlüssel auf die Hand presste. Da hat der Schulleiter Anzeige erstattet. Von den anderen Dingen wollte niemand etwas sehen, oder sie hat niemand gesehen. Aus dem Tagebuch von Sebastian Bosse O-Ton 16 Myriam Keil Also, was ich hoffe, Jugendlichen mit auf den Weg geben zu können, ist, dass man sich immer bewusst sein sollte, wie das eigene Verhalten, was das mit anderen machen kann. Und da liegt mir wirklich am Herzen: Mobbing und Ausgrenzung, also Problematiken, die viel zu oft in der Schule zum Tragen kommen. Und das vielleicht häufig nicht aus kalkulierter Boshaftigkeit einer mobbenden Gruppe, sondern weil man sich gar nicht bewusst macht, was man einem anderen Menschen damit antun kann. Sprecherin Myriam Keil entwirft in ihrem Jugendbuch "Nach dem Amok" das Szenario einer traumatisierten Schulgemeinschaft, zu der auch die Schwester des Amoktäters gehört, der nach seiner Tat Selbstmord beging. Ich-Erzählerin ist die 16jährige Maike, die mit tiefen Widersprüchen kämpft: Sie muss einen Bruder, den sie als sensibel, mitfühlend, liebevoll, wenn auch zuletzt sehr verschlossen gekannt hat, mit dem Bruder in Einklang bringen, der den Tod eines Mädchens und mehrere Schwerverletzte auf dem Gewissen hat. Woher kam sein mörderischer Drang? Maike forscht den Motiven des jüngeren Bruders nach und findet für sich die Erklärung darin, dass er offensichtlich ein Mobbing-Opfer war. O-Ton 17 Myriam Keil Man kann ja beides sein, verantwortlicher Täter und zugleich auch Opfer, ohne dass die Opferrolle irgendwas entschuldigen kann. Aber man kann die Hintergründe verstehen, und je nachvollziehbarer der Täter mit diesen Hintergründen bleibt, umso schwerer wird es einem fallen, sich komplett von ihm zu distanzieren und ihn als reines Monster zu sehen. Und das war mir auch wichtig, den Täter auch als Person wahrzunehmen. Die Schuldfrage lässt sich in den seltensten Fällen wirklich beantworten, und auch in meinem Buch kann man das nicht letzten Endes. In diesem Fall wollte ich den Leser in die gleichen Gewissenskonflikte stürzen wie Maike. Musikakzent 3 Zitatorin Es ist die einzige Blutbuche auf dem gesamten Friedhof. Sie spreizt ihre Äste und Blätter noch über drei weitere Gräber, aber ihr Stamm wächst hinter seinem Grab hervor, wie ein Stigma. Es ist kein Zufall, dass er diesen Platz unter den blutroten Blättern zugewiesen bekommen hat, es kann kein Zufall sein. Ich sage: "Es geschieht dir recht." Ganz leise sage ich es und schaue mich sofort um, ob jemand in der Nähe ist und es gehört haben könnte. Da ist niemand, also wiederhole ich es, lauter diesmal: "Es geschieht dir recht. Wenn du noch da wärst, dann würde ich nie wieder ein Wort mit dir sprechen." Aber du bist nicht da, also rede ich. Es ist absurd. Nur indem du tot bist, bringst du mich dazu. Zum Sprechen. Zum Denken. Dazu, mich mit dir zu befassen. Du machst mir ein schlechtes Gewissen, du bist nicht nur ein Mörder, sondern auch noch ein mieser Erpresser. Du willst, dass ich mich schuldig fühle, damit ich dir irgendwann verzeihen muss. "Ich werde dir nicht verzeihen", sage ich, "da kannst du warten, bis du komplett verfault bist." Ich trete nach ein paar Nelken. Beim letzten Mal habe ich nicht getreten, da habe ich neben dem Stamm der Blutbuche gehockt und geheult. O-Ton 18 Myriam Keil Es war so, dass für meinen Entschluss, über die Zeit nach einem Amoklauf zu schreiben, der Auslöser dann der Amoklauf von Ansbach war. Der Täter hatte eine Schwester, die auf dieselbe Schule ging wie er und die den Amoklauf indirekt miterlebte. Sie befand sich in einem Raum im Stockwerk unter dem Geschehen und wusste zu diesem Zeitpunkt auch nicht, dass der Amokläufer ihr Bruder war. Und damals sagte der Schulleiter der betroffenen Schule im Zusammenhang mit der Schwester des Amokläufers einen Satz, der wahnsinnig viel bei mir ausgelöst hat, und zwar sagte er: "Wir werden sie auffangen." Und dadurch habe ich mich gefragt, ob dieses Auffangen denn funktionieren kann, wenn man auch selbst total involviert in diese schreckliche Situation ist. Hat man dann überhaupt noch die Kraft, eine solche Schwester aufzufangen? Und selbst wenn es zunächst gelingt, wie stabil kann dann ein solcher Zustand sein, oder andersherum gesagt, wie störanfällig ist er? Sprecherin Wo Medienberichte enden und für die Betroffenen und Hinterbliebenen das Danach beginnt, knüpft die Romanhandlung an. Da versucht ein Schüler, damit zurecht zu kommen, dass sein bester Freund seit dem Anschlag im Rollstuhl sitzt, da steht ein Lehrer, der das Attentat verletzt überlebte, wieder vor der Klasse und ringt um eine Normalität, die es nicht mehr gibt. Und da sind Maike und ihre Eltern, eine Täterfamilie, in der Sprachlosigkeit herrscht, die gelähmt ist von Scham- und Schuldgefühlen. Zitatorin Sie und ich haben gleichzeitig nach dem Pfeffer gegriffen, um ihn herüberzureichen. Auch das Bewegen von Gegenständen hilft gegen die Stille. Ich war schneller und gebe ihm die Pfeffermühle. Als er sie entgegennimmt, berühre ich seine Hand kurz mit den Fingerspitzen. Er zuckt zurück, weil er die Berührung nicht erwartet hat. Oder weil er vergessen hat, wieso man sich berührt, wenn man eine Familie ist. "Was gibt es in der Schule?" fragt sie. "Schneider ist zurück", sage ich. Das wollte sie nicht hören. Sie will nur hören, was nichts mit jenem Tag im Januar zu tun hat. Ich hätte sagen dürfen, Schneider hat uns viele Hausaufgaben aufgegeben. Oder: Schneider hat einen Test mit uns geschrieben, ich habe ein ganz gutes Gefühl. Aber nicht, dass er wieder zurück ist. Denn das bedeutet, dass er fort war, und sie weiß, wie wir alle, warum er fort war. Ich möchte reden. Jedes Mal an diesem Tisch möchte ich reden; nicht wie früher, das verlange ich nicht, doch ich möchte über das Geschehene sprechen dürfen und keine Themen aussparen müssen, nicht ununterbrochen auf vermintem Gelände unterwegs sein, in ständiger Angst, den Fuß auf eine falsche Stelle zu setzen. Er aber möchte nicht reden. Sie möchte reden, kann es jedoch nicht. So geht es jeden Tag mit uns. Sprecherin Was man die Täter nicht fragen kann, weil sie nicht mehr leben: Wie fühlen sie sich beim Töten? Was erleben sie auf ihrem Todesgang? Ist das Morden die Erfüllung, bringt es die ersehnte Erlösung, möglichst viele mit in den Tod zu reißen? Schulamoktäter antizipieren und genießen den vorweggenommenen Ruhm, den Popstatus, den sie erlangen werden, seitdem es die neuen Medien gibt. Der Todesauftritt wird im Internet inszeniert und wird zum Entree für die maximale weltweite Rezeption und damit die Verewigung ihrer Tat. Eric und Dylan unterhalten sich in einer ihrer Botschaften darüber, wer ihr "Meisterwerk", sobald es vollbracht sei, einmal verfilmen wird, Quentin Tarantino oder Steven Spielberg. Musikakzent 1 Zitator Aus dem Testament von Dylan Klebold: Hey, Mama. Ich muss gehen. Es ist eine halbe Stunde vor unserem kleinen Jüngsten Gericht. Ich wollte mich nur bei euch entschuldigen für den Mist, den das für euch bedeuten wird. Weiß nur, dass ich an einen besseren Ort gehe. Ich mochte das Leben nicht besonders, und ich weiß, dass ich glücklich sein werde, wo zum Teufel ich auch hingehe. Also ich bin weg. Auf Wiedersehen. 15