"Literatur kann den Spieß einfach umdrehen"

Eshkol Nevo im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 15.09.2013
In Eshkol Nevos Buch fühlen sich die 60-, 70-jährigen Israelis verschlissen von der Aufbauarbeit und der Trauer um zu viele Tote. Sie verlassen das Land. Es gehe ihm um andere Sichtweisen, "nicht um den ultimativen Lösungsvorschlag".
Sigrid Brinkmann hat Eshkol Nevo gefragt, warum er die Alten zu Flüchtigen macht?

Eshkol Nevo: Weil es genau das Gegenteil der Wirklichkeit spiegelt. Man liest immer wieder mal von jungen Israelis, die mit Rucksäcken umherziehen und deren Spuren sich verlieren, und ihre Eltern brechen dann auf, um sie zu finden. Literatur kann den Spieß einfach umdrehen und mit dem spielen, was wir bereits kennen.

Ich hatte Lust, der sehr pragmatisch denkenden und bodenständigen Generation meiner Eltern – also der ersten, die in Israel geboren wurde – die Chance zu geben, verloren zu gehen, abhanden zu kommen, und zu schauen, was dann passiert. Die Figur des Meni Peleg verkörpert einen erfolgreichen Geschäftsmann. Dass der abhaut, kann man sich kaum vorstellen. Also musste ich mir überlegen, was ihn zusammenbrechen lässt und herausfinden, woran ein Typ wie er absolut verzweifelt. So habe ich den Roman begonnen.

Brinkmann: Und keiner der drei Charaktere, die ihre Kinder zurücklassen in Israel, kehrt zurück …

Nevo: Ich glaube, es geht nicht darum, ob die Alten für immer weg gehen oder irgendwann zurückkehren, sondern darum, dass sie es wagen, anders auf ihr Leben zu schauen. In dem Moment, wo du deine Sicherheiten aufgibst, dein Land verlässt, betrachtest du alles dir Vertraute mit anderen Augen.

Brinkmann: Lassen Sie uns trotzdem noch einmal auf die realen Kräfteverhältnisse schauen. Es leben etwa 10.000 bis 15.000 Israelis in Berlin. Was halten Sie davon, dass sie sich zu Tausenden in Berlin niedergelassen, und das auf unabsehbare Zeit?

"Für einen Israeli ist ein Aufenthalt in Berlin immer aufgeladen "
Nevo: Es kommt einem zunächst einmal wie eine ironische und auch faszinierende Umkehrung der Geschichte vor: Berlin wird von Israelis überschwemmt. Ich habe mir Berlin als einen Handlungsort ausgesucht, weil ich 2007 zum ersten Mal in die Stadt gekommen bin und ich meinen Aufenthalt sehr klar erinnere. Ich hatte wunderbare Tage hier mit Freunden.

Die Stadt hat etwas Kosmopolitisches und eine eigene Schönheit. Aber es gibt eben auch eine tiefere Schicht, die nie aufhört, anwesend zu sein. Man konnte mit Freunden etwas trinken gehen, und auf der Straße tritt man dann auf die Stolpersteine für die ermordeten Juden. Für einen Israeli ist ein Aufenthalt in Berlin immer aufgeladen, egal, ob man zum ersten Mal hierher kommt oder beschlossen hat, hier zu leben. Manchmal machen sie Witze über die Geschichte, manchmal kommt es sie hart an. Es bleibt eine zwiespältige Sache. Ambivalenz ist gut fürs Schreiben …

Brinkmann: Sie legen eine Spur hin nach Argentinien, wo die Protagonisten des Romans – ein Mann und eine Frau, die sich zufällig in Peru begegnen und die Reise, beziehungsweise Suche nach einem Angehörigen zusammen fortsetzen – auf eine kleine Gruppe von Juden stoßen, die eine alternative, genossenschaftliche Lebensform probieren. Dafür steht "Neuland". Dort versammeln sich Leute, die finden, dass das Leben in Israel ein anhaltendes Trauma bewirke und man nur in der Fremde zur Besinnung kommen könne. Ist das in Israel tatsächlich unmöglich?

Nevo: Es geht nicht nur um Israel, um das Schicksal des Landes oder um den Zionismus. Es geht für mich um einen breiteren Zugang zum Leben. Um Wege, die man nicht eingeschlagen hat und die Frage, ob man gewillt ist, sich vorzustellen, was gewesen wäre, wenn … Willst du nicht doch ein paar Schritte probieren auf dem Weg, um den du einen Bogen gemacht hast? Lauf ein paar Wochen los, ein paar Monate oder vielleicht sogar Jahre. Ich mache keine politischen Vorschläge und ich habe keinen gesellschaftlichen Fahrplan.

Ich finde es bestürzend zu sehen, dass die Leute in Israel aufgehört haben, sich ein besseres Leben vorzustellen. Es gibt bei uns den Begriff "die Lage" und die Leute nehmen "die Lage" hin. In Deutschland hat man jahrzehntelang mit der Teilung gelebt. Als die Berliner Mauer fiel, änderte sich alles. Für Israelis, die dazu neigen, ihren Konflikt als ewigwährend anzusehen, ist ein Ort wie Berlin inspirierend. Es geht in meinem Buch um andere Sichtweisen, nicht um den ultimativen Lösungsvorschlag.

Brinkmann: Sie greifen den Mythos vom "wandernden Juden" auf. Er taucht auf Zeichnungen auf, die in Hotels abgelegt oder an Wände gemalt werden. Was bedeutet Ihnen dieses Bild?

"Wir sind doch alle immerzu auf der Suche nach einem Zuhause"
Nevo: Das Bild ist doppeldeutig. Man kann den Mythos psychologisch deuten und sagen, jeder von uns trägt etwas vom "wandernden Juden" in sich. Wir sind doch alle immerzu auf der Suche nach einem Zuhause, nach Neuland. Es geht gar nicht so sehr um das Jüdische bei diesem Bild. Es hat etwas Übernationales.

In Europa, wo man die Grenzen frei überquert, ziehen die Leute doch längst von einem Land ins andere. Identitäten werden gewechselt. Israel sollte die nationale Heimstatt für alle Juden werden, aber wie kommt es, dass die Israelis mehr umherziehen als Leute anderer Nationalität? Was bedeutet es, dass immer, wenn wieder ein Krieg vorbei ist, die Israelis alles dran setzen, einen deutschen oder einen polnischen Pass zu bekommen? Nur für den Fall …. Trägt der vermeintlich so zuversichtliche Israeli den wandernden Juden noch in sich? Die Frage kann man emotional und national betrachten.

Brinkmann: Man kann den Roman, der aus sechs Perspektiven geschrieben ist, auch als hoch-sensible Studie von Eltern-Kind- und Paarbeziehungen lesen, weil man erlebt, wie sich die Figuren langsam häuten und zu einer tiefen Aufrichtigkeit finden. Sie haben Psychologie in den USA studiert. Arbeiten Sie nicht als Psychologe, weil die Fiktionen einfach erbaulicher sind als die Wirklichkeit?

Nevo: Ja, das ist der Weg, den ich nicht weiter gegangen bin. Anstatt Psychologe zu werden, habe ich zu schreiben begonnen. Das Bedürfnis danach konnte ich einfach nicht länger zurückdrängen. Ich sehe in jeder Person etwas Einzigartiges, aber in der Psychologie kommt man nicht ohne Verallgemeinerungen aus. Es geht um Wissenschaft, Statistiken, Theorien. Als Psychologe hilfst du deinen Patienten, du stehst ihnen bei. Nicht so als Autor, selbst wenn man manchmal seltsamerweise das Gefühl hat, man täte es. Ich gebe Schreibworkshops. Das ist meine Art, wie ich die Freude am Spiel mit Worten mit dem Bedürfnis verbinde, Leuten etwas zu geben. Über das Kreative Schreiben bin ich meinem Schicksal entkommen, Psychologe zu werden.

Eshkol Nevo: Neuland
Roman, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
dtv, München, September 2013
640 Seiten
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