Literatur in Zeiten der Krise

Pest Reset

31:06 Minuten
Seuchenmasken aus Papier sind an einer Wand befestigt. Eine Sonderausstellung in Herne zeigte die Geschichte der Pest und ihre globalen Auswirkungen Ende 2019.
In Büchern und Ausstellungen feiert die Pest ein Revival. © dpa/Fabian Strauch
Von Andi Hörmann · 15.01.2021
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Der Klassiker "Die Pest" von Albert Camus erfährt mit der Coronapandemie eine Renaissance. Denn es steckt offenbar vieles drin von dem, was wir zur Zeit erleben. Auch Dystopien wie "1984" von George Orwell erzählen von Ohnmacht und Katastrophen.
"Gerade dieser Tage ist es für mich von besonderer Bedeutung, dieses Unbekannte, in dem wir uns nun alle befinden, auf mich zukommen zu lassen", sagt die Schriftstellerin Marica Bodrožić am Telefon. Es ist der gebrochene Sound der Kommunikation aus der Quarantäne heraus und in die Quarantäne hinein. Formal wie inhaltlich geht es in der vereinzelten Enge der Isolation ans Eingemachte.

Pandemien ähneln sich

"Eine der spürbarsten Folgen war die plötzliche Trennung von Menschen, die nicht darauf vorbereitet waren", heißt es in der Hörspielfassung von "Die Pest" von Albert Camus. Ob Covid-19 oder die Pest in früheren Jahrhunderten, die gesellschaftlichen Verhaltensweisen in einer solchen Pandemie ähneln sich offenbar.
Der Roman "Die Pest" aus dem Jahr 1947 beschreibt präzise die unterschiedlichen Phasen, die die Bevölkerung im Angesicht der Krise durchläuft und wirkt dabei erstaunlich aktuell: Leugnung, Panik, Angst und der beklemmende Weg in eine neue Normalität, die uns den Tod vor Augen führt.

Die Zerbrechlichkeit unserer Existenz

"Die Zerbrechlichkeit, der wir alle ausgesetzt sind, macht für mich in meinem eigenen Leben die Dinge sehr stark sichtbar, denn darum geht es: Wir sind sterblich. Die Sterblichkeit wird uns dieser Tage so stark vor Augen geführt." Auch für die Schriftstellerin Marica Bodrožić ist die gegenwärtige Krise ein Ausharren im Alarmzustand.
Körperliches Abstand halten, das sogenannte Social Distancing, gilt im zweiten Lockdown erst recht. Nähe gibt es vor allem über die Sprache. Die Zukunft ist in Zeiten der Pandemie ungewiss. Auch für Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Manche geben sich gelassen wie Kathrin Röggla oder Peter Stamm:
"Ich verfolge jetzt kein Ziel, dass ich sage: Ich beschreibe den Weltuntergang, arbeite natürlich schon mit diesen Energien, weil: Die haben wir in unseren Köpfen, wir können uns nicht irgendwie davon frei machen."
"Die Welt ist dann doch relativ stabil. Von daher sind wir jetzt einfach mal ein bisschen aufgerüttelt, aber es ist noch lange nicht apokalyptisch, was wir erleben."

Dystopische Literatur - Texte mit Spiegelfunktion

"Das, was wir gerade erleben, finden wir in der Literatur eher in der apokalyptischen oder postapokalyptischen Literatur", meint dagegen die Literaturwissenschaftlerin Susanna Layh.
Dystopien seien für sie immer politische Literatur: "Es geht ums Umdenken, Überdenken, Neu-Denken. Ein Was-wäre-wenn-Narrativ: Sieh her, wenn Du so weiter machst, Menschheit, dann wird dies und jenes passieren, dann wird dies und jenes eintreten. Willst Du das?"
Ob "1984" von George Orwell oder "Schöne Neue Welt" von Aldous Huxley – es handele sich bei solchen Texten um zeitdiagnostische Texte mit Spiegelfunktion: "Die Leserschaft soll aufgerüttelt, berührt, bewegt, gewarnt werden. Macht so nicht weiter, sonst hast Du diese Welt, wie ich sie dir spiegelbildlich vorhalte!"

Nachdenken über die eigene Wirklichkeit

Die Dystopie, wörtlich der "Un-Ort", ist im übertragenen Sinn eine düstere Zukunftsvision ohne Happy End. Viele moderne Dystopien sind zu Weltbestsellern geworden wie "Wir" von Jewgeni Iwanowitsch Samjatin aus dem Jahr 1920 oder die zwischen 2008 und 2010 veröffentlichte Romanserie "Die Tribute von Panem" von Suzanne Collins.
Susanna Layh sieht den Effekt solcher Texte darin, dass sie einen anregen, über die eigene Wirklichkeit nachzudenken:
"Weil natürlich diese Schreckensszenerien auch vor Augen führen, was in einer solchen Welt auch verloren geht. Damit hat es natürlich immer auch einen utopischen Kern."
Dystopien lassen uns Leser darüber nachdenken, wie wir leben oder eben nicht leben wollen. Sie beschreiben dabei nicht immer das politische Extrem der Diktatur. Es kann auch die bedrohte Freiheit im Privaten sein wie Isolation oder Quarantäne - und die Frage: Was machen diese Einschränkungen mit uns?

Rilkes "Panther" auf den Balkonen

"Ganz konkret ist das, wie wahrscheinlich für sehr viele Menschen, ein Zurück-geworfen-sein auf das Innere", beschreibt Marica Bodrožić die gegenwärtige Situation – ein Zustand, der ihr als Schriftstellerin nicht unbekannt sei. Mit den Ausgangsbeschränkungen von März bis Mai 2020 veranstaltete sie ein allabendliches Ritual. Der Balkon wurde zur Bühne. Um 20 Uhr war Pantherzeit:
"Ich bin auf die Idee gekommen, das Panther-Gedicht von Rainer Maria Rilke auf dem Balkon zu lesen und meine Nachbarn und alle dazu einzuladen, weil ich glaube, dass dieses Gedicht etwas von diesem Zustand spiegelt, den wir gerade alle - und zwar weltweit - durchmachen. Dieses Eingesperrt-Sein und Hinauszuschauen in die Welt, die uns mal gehört hat."

Alternativen im Literaturbetrieb

Ungewissheit in Zeiten der Krise. Die Ausbreitung des Covid-19-Virus ist mit vielen Sorgen, Nöten und Ängsten verbunden — auch im Literaturbetrieb. Die Pandemie und die damit verbundenen Ausgangsbeschränkungen erfordern einen Krisenmodus: Buchhandlungen waren über Wochen geschlossen, Lesereisen von Autorinnen und Autoren sind über Monate abgesagt. Die Literaturhäuser bieten alternativ ein Online-Ersatzprogramm.
Die literarische Form, die sich in dieser Zeit anbietet, ist das Tagebuch. Mit online veröffentlichten Journalen lässt sich am schnellsten auf die Situation reagieren. Das Aargauer Literaturhaus Lenzburg in der Schweiz, etwa 40 Kilometer westlich von Zürich, hatte Dorothee Elmiger (hier als PDF) und Peter Stamm im März 2020 dazu eingeladen, täglich einen Beitrag auf der Homepage der Institution zu publizieren.
Es sind lesenswerte Zeitdokumente aus der privaten Quarantäne in den ersten Wochen der Pandemie. Die Bedrohung durch das Virus vermischt sich darin mit den Ungewissheiten der eingeschränkten Lebenswelt. Der Grundtenor ist desillusioniert bis gleichmütig.

Das Ansteckende der Literatur

Klassiker der dystopischen Literatur wie "Die Pest" von Albert Camus, die in der Krise boomen, schärfen unseren Blick für die literarische Corona-Gegenwart. Denn auch formal gibt es einen Zusammenhang zwischen Literatur und Pandemie, zwischen Sprache und Virus: das Ansteckende.
Das Virus wird so im übertragenen Sinn zur kleinsten syntaktischen Einheit, zum Symptom für Literatur in Zeiten der Krise. Die Krankheit selbst klingt nach Science Fiction: Covid-19. Das utopische Potential für einen Neuanfang steckt auch in dieser Pandemie: "Pest Reset", alles auf Null. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla:
"Bevor das Ganze losging, habe ich mich mit dem Anthropozän, mit Klimakatastrophen, beschäftigt und hatte da so eine abstrakte Zukunftssorge. Jetzt ist das konkret geworden, durch so einen Virus, der einem viel näher rückt. Ich würde sagen, ich hab eine große Unsicherheit, was die Zukunft angeht. Aber es gibt auch eine große Chance in dem Ganzen, dass es so nicht geht, wie wir das noch vor zwei Jahren dachten."
(DW)
Diese Sendung ist eine Wiederholung vom 29. Mai 2020

Sprecherin und Sprecher: Aylin Esener und Toni Jessen
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Hermann Leppich

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