Literarisches Gegenprojekt

19.07.2012
Der Autor und ehemalige "Zeit"-Redakteur Sven Hillenkamp versammelt in seinem Buch Prosafragmente, die im Verlauf immer kürzer werden. Obwohl sie an Blogeinträge erinnern, wagen sie sich stilistisch in die Nähe großer Denker wie Lichtenberg oder Montaigne.
"Ich esse zwar Salat, aber ich esse immer nur das Herz", schreibt der Philosoph Sören Kierkegaard, und dass Sven Hillenkamp sein Buch mit diesem Zitat eröffnet, erlaubt mehr als nur eine kulinarische Lesart. Salat, das wäre die leichte Kost, im Feld der Literatur also die kleine Form, die Kurz- oder Kürzestgeschichte. Und das Herz, das wäre die erzählerische Verdichtung von Ideen zum spekulativen Szenario.

Fast 200 solcher Herzstücke versammelt das Buch, Prosafragmente, zu Beginn ein bis zwei Seiten lang, im Fortgang des Textes immer kürzer werdend, bis es am Ende nur noch Sätze sind.

"Unvorstellbarkeit" lautet die Überschrift eines der letzten Einträge. Der Text dazu: "Billy rief aus: So wie ich könnte ich nie leben!" Die Paradoxien, die oft gerade das Dasein und seine Verwaltung in Gang halten: Auf sie hat es Hillenkamp abgesehen. An Billy, der zur Chiffre ausgedünnte Protagonist des Buches - er taucht in rund einem Drittel der Stücke auf -, wird das Absurde unserer modernen Existenz verdeutlicht. "Jahre lang hatte sich Billy in Zimmer und Wälder zurückgezogen, um seine innere Mitte zu finden", heißt es in "Äußere Mitte", "aber er hatte stattdessen nur Berühmtheitsfantasien, Sexfantasien und Gewaltfantasien gefunden".

Abstinenz von Medien und Meinungen, das ist eine Illusion, die Suche nach Originalität ein naives, ja lächerliches Projekt. "Ich bin das immerwährende Zitieren leid", lässt der Erzähler einen Geisteswissenschaftler sagen, "ich will selber Quelle werden - Quelle unbekannt".

Die Existenz ist ein Patchwork aus Ideen, Haltungen, Images, das ist kein neuer Gedanke, und dass das Eigentliche nur um den Preis der Selbsttäuschung zu haben sei, gehört zum Kanon der postmodernen Kulturkritik. Im Angesicht einer drastischen Virtualisierung unserer Lebenswelt durchs Internet aber gewinnt Hillenkamps literarisches Verfahren neue Relevanz. Heute, wo sich noch die kleinste existentiellste Regung im Handumdrehen in Zeichen verwandelt, ob als Twitter-Feed oder Facebookmeldung, ist es von der Ästhetik oft nur noch ein kleiner Schritt zum Gegenteil, der Empfindungslosigkeit.

Die Literatur kann sich dazu auf zweierlei Weise ins Verhältnis setzen: als Großerzählung, die eine Moral durchformuliert, oder als Fragmentkunst, die sich gegen geschlossene Dramaturgien sperrt. Hillenkamps Entscheidung für Kompilation und Collage ist mutig: Seine Textsammlung hat das Versprengte von Blogeinträgen, wagt sich stilistisch aber in die Nähe essayistisch-aphoristischer Meister wie Lichtenberg oder Montaigne.

Dass Nils Nycander, neben Billy das zweite Sprachrohr des impliziten Autors, eine Romanallergie befällt, ist als Pointe in eigener Sache zu verstehen. Der Grund für die Abscheu vor allem Epischen: "Der Roman bewegt sich voran wie eines jener kleinen Fahrzeuge der Stadtreinigung, die alles aufsaugen, was auf ihrer Strecke liegt."

Hillenkamps Prosa versteht sich als Gegenprojekt - als gezieltes Aufspießen fragwürdiger Phänomene. Dazu gehören vor allem die Täuschungsmanöver, mit denen wir unsere Selbstbilder gestalten; ihre vertrackten Strukturen erscheinen in diesen Texten herauspräpariert wie das Herz aus einem Salat.

Besprochen von Daniel Haas

Sven Hillenkamp: Fußabdrücke eines Fliegenden
Klett-Cotta, Stuttgart 2012
224 Seiten, 19,95 Euro