Literarischer Adventskalender (7)

Roman: „Ein empfindsamer Mensch“

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Buchcover zu Jáchym Topol: "Ein empfindsamer Mensch"
Familienroman als furiose Freakshow: „Ein empfindsamer Mensch“ von Jáchym Topol. © Suhrkamp Verlag
Von Marianne Allweiss · 07.12.2019
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Gérard Depardieu rast nackt durch den Wald – und ist damit noch die normalste Figur in dieser furiosen Familiengeschichte von Jáchym Topol. Politikredakteurin Marianne Allweiss verschenkt das Buch an ihre Schwestern.

1. Worum geht es?

Ich verschenke dieses Jahr "Ein empfindsamer Mensch" von Jáchym Topol. Eine Schaustellerfamilie aus Tschechien erlebt 30 Jahre nach der Wende, dass die Zeit der Freiheit in Europa, von der auch sie profitiert haben, vorbei ist. In ihrem heruntergekommenen Camper, mit ihren zwei Kindern, von Alkohol, Armut und Gewalt gezeichnet, werden sie aus England von Brexit-Anhängern vertrieben, aus Spanien von Massentourismushassern und in Ungarn belagern schon die Flüchtlinge den Bahnhof. Die vier landen erst im ukrainischen Kriegsgebiet, wo Gérard Depardieu nackt durch den Wald rast – und er ist noch die normalste Figur in dieser furiosen Freakshow – und schließlich in ihrer Heimat: am Rande Prags, am Rande einer bürgerlichen Existenz, wo Alte, Aussortierte, aber auch frühere Dissidenten an einem Nebenfluss der Moldau dahinvegetieren.

2. Was ist das Besondere?

Und da sind wir beim Besonderen an diesem Roman. Empfindsam ist auf den ersten Blick niemand. Viele der großartig gezeichneten Haupt- und Nebenfiguren bleiben brutal auf der Strecke – die wieder schwangere Mutter wird vom Bruder des Protagonisten aus einem Krankenhausfenster in den Tod gestürzt – sie hat genervt. Aber spätestens an den Sazava, im Urschlamm dieses böhmischen Biotops, schenkt Jáchym Topol seinen Figuren Menschlichkeit.
Ja, die gescheiterten Künstler, Kleinkriminellen und Prostituierten sind Getriebene unserer Zeit und ihrer eigenen Fehler, aber sie haben ihre Sprache, ihre Freiheit und auch ihre Empfindsamkeit – und Humor gehört bei Topol natürlich auch immer dazu.

3. Wem wollen Sie es denn schenken?

Ich schenke das Buch meinen beiden Schwestern, weil ich davon überzeugt bin, dass ihre Nerven stark genug sind, um eine etwaige anfängliche Abscheu gegenüber dieser Spezies Mensch zu überwinden. Und weil ich dann gleich zwei Mal beobachten kann, wie sie nach wenigen Stunden genauso begeistert sein werden wie ich – das macht uns drei Schwestern aus.

Jáchym Topol: "Ein empfindsamer Mensch"
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Suhrkamp, Berlin 2019
494 Seiten, 25 Euro

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