Literarische Utopien

Vom Paradies zur albtraumartigen Science Fiction

Ein Gebäude am Pariser Place de la Nation mit der Inschrift "1984". Es beziehet sich auf George Orwells Roman "1984" über einen totalitären Überwachungsstaat. Das Buch ist 1949 erschienen.
George Orwells Dystopie "1984" ist zum Klassiker avanciert. © dpa / picture alliance / Etienne Laurent
Von Marten Hahn · 21.12.2016
Vor 500 Jahren schrieb Thomas Morus sein Werk "Utopia" und lieferte damit die Blaupause für eine neue literarische Form: Lange waren Utopien positive Gesellschaftsentwürfe, während Autoren im 20. Jahrhundert vor allem Dystopien verfassten – so auch heute.
Der auf Latein verfasste philosophische Dialog beschreibt eine ideale Gesellschaft. Die Bewohner des Inselstaats Utopia kennen keinen Privatbesitz, es herrscht weitgehende Gleichberechtigung, Bildung ist frei. Morus war damit der Begründer des utopischen Romans. Doch das Genre hat sich weiterentwickelt. Es werden heute vermehrt Dystopien – also negative Gesellschaftsentwürfe – erdacht. Und auch die Feindbilder haben sich verändert, wie Marten Hahn im Gespräch mit dem britischen Literaturwissenschaftler Matthew Beaumont erkundet hat.
Matthew Beaumont: "Ich glaube nicht, dass es rein utopische Literatur gibt."
Wo Licht, da Schatten. So ungefähr beschreibt Matthew Beaumont Literatur, die imaginiert, wohin es mit der Menschheit gehen könnte. Beaumont sitzt in einem kleinen Büro, umgeben von Büchern. Er ist Literaturwissenschaftler am University College London und hat sich auf utopische Literatur spezialisiert.
"Utopien stehen doch zumindest in einer sehr unbehaglichen Beziehung zu der Zeit, in der sie geschrieben wurden. Sie stellen nicht zuletzt diese Zeit, diesen Ort als eine Art Dystopie dar. Dystopische und utopische Impulse sind also sehr eng miteinander verwoben."

Dystopien: Aldous Huxleys "Schöne Neue Welt" und George Orwells "1984"

Und doch dominieren bis Ende des 19. Jahrhunderts eher positive Zukunftsentwürfe. Erst mit der Jahrhundertwende zeichnet sich ein Trendwechsel ab. Autoren verfassen fortan vor allem Dystopien, Albtraum-Szenarien. Aldous Huxleys "Schöne Neue Welt" und George Orwells "1984" sind heute Klassiker.
"Die Kulturen der europäischen Staaten erlitten Anfang des 20. Jahrhunderts verschiedene Krisen. Eine Krise des Imperialismus. Eine Krise des Idealismus und des Fortschritts. Das Ganze fand seinen Höhepunkt im Ersten Weltkrieg. All die utopischen Träume, die auf Aufklärung und Rationalismus beruhten, wurden unter den Stiefeln der Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zermalmt."
In den folgenden Jahrzehnten wird dystopische Literatur ein Raum für soziale Experimente. In "Die Enteigneten" beschreibt die US-Autorin Ursula K. Le Guin 1974 eine anarchistische Gesellschaft, die hehren Idealen folgt und doch scheitert. Dieser spielerische Umgang mit Ideologien in der Literatur, so Matthew Beaumont, wird aber bald gebremst.
"Sozialistische Bewegungen und die Frauenbewegung treffen auf Widerstand. Sie werden vom in den 1970ern und 1980ern aufsteigenden Neoliberalismus verdrängt. Die utopischen Fantasien drehen sich danach weniger um sozio-politische Ideen und Experimente, und mehr um technologische Lösungen, die wir heute mit Science-Fiction assoziieren."

Heute denken Autoren vor allem wissenschaftliche Errungenschaften weiter

Schauen Autoren heute in die Zukunft, denken sie vor allem wissenschaftliche Errungenschaften weiter. Das ist in Tom Hillenbrandts "Drohnenland" so. Und auch in Martin Walkers "Germany 2064". Hier diktiert der technologische Fortschritt gesellschaftliche Entwicklungen. Nicht totalitäre Staaten sondern Superkonzerne lenken die Geschicke der Menschen, wie in Dave Eggers jüngst verfilmten Roman "The Circle".
Weil Technologie sich heute urplötzlich und abrupt entwickelt, schauen Romane wie "The Circle" nicht in die ferne Zukunft, sondern eher um die nächste Ecke.
"Die Linie zwischen Science-Fiction und Wissenschaft ist so dünn im Moment, dass wir nicht sehr weit voraus denken müssen. Was verschiedene Konzerne oder Staaten und ihr Militär entwickeln, wird unseren Alltag in nur ein oder zwei Jahrzehnten beeinflussen. Nicht erst, wie in den Utopien des späten 19. Jahrhunderts, in 100 Jahren."
Matthew Beaumont findet für die Abkehr vom politischen Utopismus in der Literatur kritische Worte. Und doch scheint der aktuelle Fokus auf Technologie und multinationale Konzerne nachvollziehbar. Auch wenn man damit die von Snowden entlarvten Geheimdienste davonkommen lässt: Heißen die "Big Brother" der Neuzeit nicht Google, Facebook & Co?
"Wenn man sich anschaut, wie Google in London versucht, den öffentlichen Raum neuzugestalten, wie der Konzern versucht, seinen Fußabdruck überall zu hinterlassen, dann ja: Dann finde ich das sehr unheimlich."
Der IT-Riese Microsoft griff deswegen zu einem PR-Trick. Der Konzern erlaubte preisgekrönten Science-Fiction-Autoren im vergangenen Jahr Zutritt zu seinen Forschungslaboren und wünschte sich Zukunftsvisionen. Das Ergebnis veröffentlichte Microsoft kostenlos als E-Book. Es handelt sich um Auftragsarbeiten und doch schwanken die Kurzgeschichten zwischen Utopie und Albtraum. Wo Licht, da eben auch Schatten.
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago
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