Literarische Topographie eines Landes

25.12.2008
Von A wie Aargau bis Z wie Zürich - aus allen Kantonen der Schweiz stammen die Reiseberichte besonderer Art, die der Zürcher Buchverlag Nagel & Kimche zu seinem 25. Geburtstag herausgegeben hat. 25 Prosatexte aus den rund 25 Kantonen, verfasst in den vergangenen 25 Jahren - entstanden ist die literarische Topographie eines geschichtenträchtigen Landes.
Ein Buchverlag feiert sich selbst - mit einem Geschenk an seine Leser, einer literarischen Rundfahrt. Eben, im September, beging das Zürcher Editionshaus Nagel & Kimche seinen 25. Geburtstag. Es gab ein Fest der Bücher und Autoren unter dem schönen Motto "MehrDeutschSprachig".

Die Damen und Herren Verleger - zwei Frauen gründeten das Unternehmen - protegierten von Beginn an vor allem Schweizer Schriftsteller. Erinnert sei an den Überraschungserfolg "Melnitz" von Charles Lewinsky aus dem Jahr 2006; der Wälzer verkaufte sich über hunderttausend Mal.

Seit 1999 gehört das Haus Nagel & Kimche zum Münchner Hanser Verlag, doch die eidgenössischen Wurzeln will man betonen. Vor ein paar Jahren hat Verlagsleiter Dirk Vaihinger deshalb "Die schönsten Gedichte der Schweiz" herausgegeben. Nun, zum Jubiläum, publiziert er Geschichten, Reiseberichte besonderer Art: 25 Prosatexte aus den rund 25 Kantonen, entstanden in den vergangenen 25 Jahren.

Die Tour geht durch ein kleines, großes sonderbares Land - durch Bergdörfer und Talschaften, durch die archaische und die moderne Eidgenossenschaft, durch weltoffene Orte und tiefe Provinz. Eine "föderale Parzellensammlung" (Vaihinger) ist zu besichtigen; man atmet "Kantönligeist". "Der Kanton", so schreibt treffend der Herausgeber, "ist wohl nicht die Keimzelle, aber das Bauelement der Schweiz."

Der Reisende schaut auf Gipfel, in Schluchten, und, ja, ein paarmal überwindet er sogar den Röstigraben, jene Sprachbarriere, die die Deutschschweiz so zuverlässig vom Rest des Landes trennt. Ein PR-Satz der Tourismusbranche, von Dirk Vaihinger zitiert, könnte als Leitgedanke über dem Buch stehen:

"Die Schweiz vereint auf kleiner Fläche eine unvergleichliche Fülle von Diskrepanzen und Besonderheiten."

Ohne eine ordnende Hand bekommen Anthologien leicht etwas Willkürliches, Beliebiges. Und so ordnete Vaihinger die bunte Mischung: Er wählte Texte aus den Heimat- oder Wohnkantonen der Verfasser, von A wie Aargau bis Z wie Zürich. Helen Meier, Appenzell, Jahrgang 1929, und Peter Stamm, Thurgau, geboren 1963, erzählen von Schwimmausflügen mit tragischem Ende. Lukas Bärfuss, Bern, und Erwin Koch, Luzern, melden sich aus familiären Abgründen.

Marie-Claire Dewarrat, Fribourg, beschreibt eine Totenwache für eine ungeliebte, weil geizige Alte. Emil Zopfi, Glarus, klettert im Alpsteinmassiv an biografischen Steilwänden. Silvio Huonder, Graubünden, erinnert sich beim Klang von Pink Floyd an eine Teenie-Liebschaft. Gertrud Leutenegger, Schwyz, erhält "eine Million Rosen aus Odessa".

Der Zuger Thomas Hürlimann unternimmt eine "Schweizerreise in einem Ford". Maurice Chappaz wandert durch das Wallis "auf einem Pfad, mehr denn tausend Fuß über der Rhone". Auch Ruth Schweikert, Peter Bichsel, Charles Lewinsky erkunden verborgene Winkel. Und Peter Weber, St. Gallen, besichtigt des Schweizers liebste große Stadt: Berlin.

Zwei Beiträge sind Auskopplungen aus längeren Arbeiten. Fast alle Texte - dies wäre ein Manko der Sammlung - erschienen bereits in anderen Publikationen, nur wenige allerdings bei Nagel & Kimche.

Eine "narrative Landkarte" wollte der Herausgeber abbilden, "die literarische Topographie eines geschichtenträchtigen Landes". Das hat er geschafft. Vaihingers "Lesebuch der helvetischen Konföderation" ist so unterhaltsam, wie man es erwarten durfte.

Und was besonders erfreut: Neben Fingerübungen, Impressionen, Schwänken finden sich belletristische Perlen. Auf dem Schutzumschlag des Buches pflügt ein Ozeandampfer durch Grasland, wohl am Vierwaldstättersee. Man sieht Buchten, Berge, Kühe flüchten irritiert.

Ein schönes Bild - für den Mut mancher Autoren, "Kantönligeist" und Gattungsgrenzen schlicht zu ignorieren.

Rezensiert von Uwe Stolzmann


Dirk Vaihinger (Hg.): Die Schweizerreise. Erzählungen aus den Kantonen. Anthologie
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2008,
224 Seiten, 17,90 Euro