Literarische Putschisten

"Ich schmiede keine Pläne, ich glühe"

158:23 Minuten
Ein historisches Porträt des italienischen Schriftstellers und Politikers Gabriele d'Annunzio (1863-1938).
Gabriele D'Annunzio war ein Star der italienischen Literaturszene – und zugleich ein Kriegstreiber, der zu politischen Morden aufrief. © Imago Images / United Archives International / Topfoto
Von Michael Reitz · 22.07.2023
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Die Feder sei stärker als das Schwert, heißt es. Das 20. Jahrhundert war jedoch voll von Schriftstellern, die selbst zur Waffe griffen und einen Umsturz anstrebten: Gabriele D’Annunzio, Ernst Jünger oder Yukio Mishima. (Erstsendung: 07.11.2020)
"Italiener von Fiume, hier bin ich. Hier ist der Mensch, der alles aufgegeben und alles vergessen hat, um sich frei und neu in den Dienst der edlen Sache, eurer Sache zu stellen: die schönste und vornehmste Sache der Welt für einen Kämpfer, der in derartiger Niedergeschlagenheit und Traurigkeit nach einem Grund zum Leben und zum Glauben sucht, dazu, sich hinzugeben und zu sterben."
So ruft der italienische Schriftsteller und Putschist Gabriele D’Annunzio am 12. September 1919 auf dem Balkon des Stadtpalastes von Fiume, dem heutigen Rijeka (im Westen von Kroatien). Mit ihm beginnt die Reihe derjenigen Schriftsteller und Künstler, die sich im 20. Jahrhundert als politische Aktivisten, Revolutionäre, Terroristen oder Putschisten versuchten.

Verhaltenslehren der Kälte

Über sie sagt der Germanist Helmut Lethen: "Die Welt ist ein Energiekreislauf, den sie befördern wollen. Das Schreckliche an dieser Avantgarde ist, dass sie überhaupt kein Interesse an der Austauschsphäre der Mitte hatten. Ihre Faszination geht von der politischen Peripherie aus. Ihre Faszination heftet sich an die Destruktionskräfte der Gesellschaft."
Gabriele d'Annunzio hät eine Rede in  Fiume, 1919. 
1919 besetzt Gabriele d'Annunzio mit einigen Freischärlern die Stadt Fiume, das heutige Rijeka. Hier spricht er zu seinen Anhängern.© picture-alliance / Leemage
Die erste Stunde der Langen Nacht versucht herauszufinden, welche hauptsächlich männlichen Energieströme, politisch-historischen und künstlerischen Bewegungen einem literarischen Putschistentum zugrundliegen könnten. Hier geht es hauptsächlich um Gabriele D’Annunzio. In der zweiten Stunde erscheinen auf der Bühne unbequeme bis zwiespältige Autoren wie Ernst Jünger, Gottfried Benn, Ernst von Salomon und Ezra Pound.
In der dritten Stunde schließt sich der Kreis mit Yukio Mishimas dramatisch inszeniertem Selbstmord als Kulminationspunkt einer Haltung, die Helmut Lethen als "Verhaltenslehre der Kälte" beschreibt: "Das heißt, dass einfach moralische Kriterien außer Kraft gesetzt werden. Und das kann man dann in den Beobachtungssätzen, die dann geschrieben werden, leicht nachverfolgen."

Kriegsverherrlichung und Männlichkeitskult

Der Krieg wird in dieser Art von Literatur als eine große Ernüchterungsmaschine beschrieben – einhergehend mit einem merkwürdigen Erregungszustand. Im Jahr 1909 erscheint das sogenannte Futuristische Manifest des Schriftstellers und späteren faschistischen Politikers Filippo Tommaso Marinetti. In Künstlerkreisen schlägt es ein wie eine Bombe. Denn es ist ein Manifest für die Herrschaft der Technik, des kalten technischen Blicks und der Zerstörung der bisherigen geistigen Welt und ihrer Werte.
Darin heißt es unter anderem: "Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag."
Die angriffslustige Bewegung, die Ohrfeige und der Faustschlag – zusammengefasst ist das der Sound einer männlich definierten und dominierten Zeit, der nicht mehr in die Tiefe gehen will. Teile der europäischen Intellektuellen, links wie rechts, nehmen das Futuristische Manifest mit Begeisterung auf, auch Gabriele D’Annunzio: "Ich schmiede keine Pläne", sagt er, "ich glühe". Sowohl Marinetti als auch D‘Annunzio sehnen den Krieg herbei, ja, sie versprechen sich von ihm eine reinigende Wirkung.

Literarischer Größenwahn

Der Kölner Autor und Zeithistoriker Kersten Knipp, Autor einer Studie über D’Annunzio mit dem Titel "Die Kommune der Faschisten": "D’Annunzio war immer auf der Suche nach starken Emotionen. Er war auch immer am Zeitgeist, surfte regelrecht auf dem Zeitgeist. Und dann, um 1914/15, wandelte sich sein Interesse mehr und mehr hin zur Politik – und zwar zur nationalistischen Politik."
Ein Porträt des italienischen Schriftstellers Gabriele D'Annunzio, Italien. Photographie um 1915.
Literarische Wirkung reichte ihm nicht: Der italienische Schriftsteller Gabriele D'Annunzio, hier in seiner Uniform als Luftwaffenpilot.© picture alliance / IMAGNO
Gabriele D’Annunzio ist in dem jungen Staat Italien, dessen Nationenbildung 1870 nach einer Reihe von Kriegen vollendet ist, ein Paradiesvogel. Am 12. März 1863 in Pescara geboren, entdeckt er früh seine Liebe zur Literatur, lässt sich als gerade einmal 19-Jähriger in Rom nieder und arbeitet dort als Journalist und Schriftsteller. D’Annunzio steigt rasch auf in der Welt des literarischen Entertainments, wird zu einem nationalen Star und ist nicht zuletzt selbst zutiefst überzeugt von der eigenen Größe.
Das kann einerseits produktiv sein und große Kunstwerke überhaupt erst ermöglichen, hat aber auch eine Kehrseite, sagt die Schriftstellerin Nora Bossong: "Dass man natürlich auch mit der Zeit bestimmte Mittel erlernt hat zu verführen, im bösen Sinne gesagt: zu manipulieren. Also, die Schriftstellerin, der Schriftsteller, natürlich manipuliert durch Sprache – nicht im Sinne wie Goebbels manipuliert hat mit Sprache, aber man bringt Menschen dazu, erst einmal einer Geschichte zu folgen."

Hasstiraden und Mordaufrufe

1915 ruft D’Annunzio zu den Waffen: Seine aufpeitschenden Rede von der Tribüne des römischen Kapitols ist entscheidend dafür, dass das italienische Königreich kurze Zeit später auf Seiten Großbritanniens, Frankreichs und Russlands in den Krieg eintritt. Was D‘Annunzio vor dem Kapitol von sich gibt, kann als Vorgeschmack der üblen Hasstiraden gesehen werden, die später von Benito Mussolini, Adolf Hitler oder Joseph Goebbels losgelassen werden. Der vormals leidenschaftliche und gefühlvolle Lyriker hetzt die Massen nicht nur zum Krieg, sondern auch zu politischen Morden auf.
Für den D’Annunzio-Biografen Kersten Knipp drückt sich hier eine Übereinstimmung zwischen dem Schriftsteller D’Annunzio und dem Demagogen aus: "D’Annunzio erzählt sich und seinen Anhängern etwas, und das wird als Wirklichkeit gesetzt. Und das, scheint mir, ist der Kern eines demagogischen, eines populistischen Verhaltens, wie wir es heute auch noch kennen. Also die Verabsolutierung der eigenen Wirklichkeit, ohne Bereitschaft, widersprechende Informationen zur Kenntnis zu nehmen."

Faschismus und freie Liebe

Als nach Kriegsende die Stadt Fiume, das heutige Rijeka, dem neu entstandenen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zugeschlagen wird, obwohl dort über 60 Prozent der Einwohner Italiener sind, laufen die nationalistischen Kreise Italiens Sturm. Für Gabriele D’Annunzio, inzwischen auch gefeierter Kriegsheld, ist das eine Gelegenheit, erneut zum Kampf aufzurufen: Er schart eine Truppe aus Weltkriegsveteranen um sich, die ihn – wie später Mussolini – als ihren "Duce" (Führer) bezeichnen, und marschiert ohne Gegenwehr in Fiume ein.
Gabriele D'Annunzio
D'Annunzio im besetzten Fiume: Ein Magnet nicht nur für frühe Faschisten, sondern auch für Künstler und militante Sozialisten.© picture alliance / Fine Art Images / Heritage Images
Das Ganze ist eine merkwürdige Mischung aus frühfaschistischem Gedankengut, Abenteurertum und – so verblüffend das auch klingen mag – Sozialutopie. Denn in Fiume leben auch Sozialisten – neben den russischen Bolschewiki die militantesten ihrer Art. Fiume zieht bald Menschen aus ganz Europa an. Es kursieren die wildesten Gerüchte von freier Liebe, von homosexuellen Partnerschaften, die nicht mehr unter Strafe stehen. In den meisten Fällen stimmen diese Gerüchte auch.
Zwar macht die italienische Regierung der eigenmächtigen Episode bald ein Ende und marschiert in die Stadt ein, doch D’Annunzio selbst wird weder vor ein Militärgericht gestellt, noch auf andere Weise juristisch zur Rechenschaft gezogen. Bis zu seinem Tod am 1. März 1938 steht er unter dem persönlichen Schutz Mussolinis.

Hinter der Härte steckt Angst

Zur gleichen Zeit, als D’Annunzio sich mit italienischen Weltkriegsveteranen nach Fiume aufmacht, erlebt der spätere Schriftsteller und Putschist Ernst von Salomon als halbwüchsiger Kadett, der sich um seinen ersehnten Kriegseinsatz gebracht sieht, in Berlin das Ende des Kaiserreichs: Massenstreiks, Arbeiteraufstände und schließlich offene Schießereien während des Spartakusaufstands im Januar 1919.
In dieser Zeit, so der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit, entsteht bei Ernst von Salomon und vielen anderen jungen Männern eine Haltung der unbedingten Härte gegen jede Art von Frieden und Kompromiss: Sie geraten in einen Energiestrom, der keine Mitte mehr kennt, keinen Ausgleich, kein Pardon und kein Nachgeben.
Vor allem aber ist es ein Strom, der kalt ist und jede Weichheit, die immer mit Weiblichkeit gleichgesetzt wird, ablehnt, so Theweleit: Die Republik selbst werde mit Weiblichkeit gleichgesetzt und beides "beschrieben als Sumpf, Schlamm, Breie, das verschlingt uns, wir verlieren den Boden unter den Füßen. Diese Angst vor der Körperauflösung wird von dieser ganzen Szene geteilt. Und sie finden welche, denen sie die Schuld dafür geben. Das ist die Republik, Frauen, Juden, Kommunisten et cetera. Und die müssen bekämpft werden, mit der Waffe."

Vom Schreiben zum Putschen

1922 ist von Salomon als Mitglied der rechtsterroristischen Organisation Consul maßgeblich an der Ermordung des jüdischen Außenministers Walter Rathenau beteiligt. Er wird verurteilt, aber nach kurzer Zeit begnadigt. Ab circa 1928 lässt er sich dem Umfeld der Konservativen Revolution zuordnen, seine politische Meinung ändert er nicht. Er beginnt, in rechtsradikalen Blättern zu veröffentlichen, und erlangt sehr bald beachtliche Popularität.
Porträt des Schriftstellers Ernst Jünger, Heidelberg, 1932. 
Der Schriftsteller und Nationalist Ernst Jünger, 1932. Zunächst begeistert vom Nationalsozialismus, distanzierte er sich später davon.© picture-alliance / akg-images
Auch Ernst Jünger erlangt in dieser Zeit als Autor Berühmtheit, nicht zuletzt mit seinem realistischen und zugleich gewaltbejahenden Kriegstagebuch "In Stahlgewittern". In seiner Wortwahl ist Jünger ebenso wenig zimperlich, wie bei der Wahl seiner Publikationen. Am 24. September 1923 schreibt er unter dem Titel "Revolution und Idee" im "Völkischen Beobachter", dem Kampfblatt der Nationalsozialisten:
"Die echte Revolution hat noch gar nicht stattgefunden, sie marschiert unaufhaltsam voran. Sie ist keine Reaktion, sondern eine wirkliche Revolution, mit all ihren Kennzeichen und Äußerungen, ihre Idee ist die völkische, zu bisher nicht gekannter Schärfe geschliffen, ihr Banner das Hakenkreuz, ihre Ausdrucksform die Konzentration des Willens in einem einzigen Punkt – die Diktatur!"

Ästhetik und Gewalt widersprechen sich nicht

Während Jünger und von Salomon nach dem Sieg der Nazis eher auf Distanz zu den neuen Machthabern gehen, haben sich andere Putsch-Begeisterte aus der Künstler- und Literatenszene den Faschisten regelrecht an den Hals geworfen.
Am bekanntesten ist hier wohl der Fall des US-amerikanischen Dichters Ezra Pound: Kaum ein anderer hat die englischsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts so stark beeinflusst wie er. Er selbst sieht sich jedoch als Dichter, der nicht genügend Wirkung hat. Nach der Machtübernahme durch Mussolini geht Ezra Pound zum Entsetzen der meisten seiner Freunde nach Italien und lässt sich in Rapallo nieder. Er wird zu dem, was man einen politischen Extremisten nennen könnte, der urplötzlich die abstrusesten Theorien und Umsturzpläne hegt, gepaart mit einem widerlichen Antisemitismus.
Porträt des Schriftstellers Ezra Pound, ca. 1920.
Ezra Pound (hier um 1920) prägte die moderne amerikanische Literatur - und war zugleich glühender Faschist und Antisemit.© imago / Everett Collection
Die Schriftstellerin Nora Bossong vermutet: "Ich glaube, was einen erstaunt, ist, dass Menschen durchaus ästhetisch hoch intelligent sein können, und dennoch so gewaltverherrlichend, und man kann wahrscheinlich sagen, rechtsradikal auch in bestimmten Formen oder zumindest sehr gesteigert nationalistisch. Und das glaube ich, möchte einem so gerne widersprechen. Es widerspricht sich aber nicht."

Kaisertum statt Kommerz

Das gilt auch für den japanischen Schriftsteller Yukio Mishima (der eigentlich Hiraoka Kimitake heißt): Schon früh entwickelte er literarisches Talent, mit dreizehn Jahren veröffentlicht er eine Kurzgeschichte, die ein immenses Echo hervorrief. 1944 erhält er als Jahrgangsbester eine kaiserliche Auszeichnung.
Yukio Mishima sieht bereits zu Beginn seiner literarischen Karriere, dass die traditionelle Kultur Japans einem geistlosen Konsumismus und einer gnadenlosen Kommerzialisierung der Lebenswelt unterworfen wird. In der Literatur und im persönlichen Schreiben drückt sich bei Mishima der Wille aus, Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben, die seiner Meinung nach immer stärker ihr Gesicht zu verlieren droht:
"Den Einfluss, die Bedeutung, auch das metaphysische Element, fast transzendente Element – der Tenno war ja auch immer ein Gott in Japan, bis 1945 jedenfalls – dieses Element zu restituieren, das war ihm besonders wichtig", erklärt der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell. "Und das in Verbindung mit dem Militär zu tun: Sein sogenannter Putsch von 1970 war ja in Wahrheit der Versuch, das Militär zu mobilisieren, um die alte Figur, die gottgleiche Figur des Tenno auch zu restituieren."
Der japanische Schriftsteller Yukio Mishima (1925-1970) hält eine Rede vor seinem Selbstmord in Tokyo.
Der japanische Schriftsteller Yukio Mishima während seiner Besetzung eines Militärstützpunktes 1970. Kurz nach seiner Ansprache beging er Harakiri.© picture alliance / AP Images
Dieses radikale, gewaltsame Streben nach Wirkung, nach einer Einheit von "Feder und Schwert", das sich bei Mishima ebenso zeigt wie bei Jünger, Pound oder D’Annunzio, scheint man heute unter Kunstschaffenden nicht mehr zu finden, beobachtet der Germanist Peter-André Alt: "Der Aktivismus ist verschwunden. Und das war ja vor 100 Jahren anders. Insofern beschreibt, glaube ich, der Eingriff in die Wirklichkeit als Ziel des Schriftstellers ein sehr zeitspezifisches Phänomen, das für die Epoche des frühen 20. Jahrhunderts charakteristisch ist."

Autor: Michael Reitz
Regie: Claudia Mützelfeldt
Sprecher / Sprecherinnen: Christiane Nothofer, Josef Tratnik
Redaktion: Monika Künzel
Webdarstellung: Constantin Hühn

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