"Literarische Krisenpost" im Berliner Brecht-Haus

Texte auf Bestellung unterstützen Geflüchtete

05:11 Minuten
Vor einem gelb-lila Hintergrund steht eine Vintage-Schreibmaschine aus der viele weiße Blätter fliegen.
Freude auf Rezept: "Die Sterne deuten auf eine weiche Landung im Himmel der Verdrängung und Verblendung", steht im bestellten Text unseres Autors. © Gettyimages / PM Images / Phil Leo / Michael Denora
Von Étienne Roeder · 08.12.2020
Audio herunterladen
Texte aller Art, vom Krimi bis zum Schmähgedicht, liefert ein Literaturkollektiv im Berliner Brecht-Haus in der Vorweihnachtszeit. Der Erlös fließt an Ärzte ohne Grenzen, zur Versorgung von Geflüchteten auf den griechischen Inseln.
Bei Anruf: Text. Das verspricht das Kollektiv "Literatur für das, was passiert", das sich mit seinen Schreibmaschinen im Berliner Brecht-Haus einquartiert hat und dort einen literarischen Pop-Up-Store betreibt.
Texte aller Art können per Telefon bestellt und dann verschenkt werden. Ob Weihnachtskrimi, Gedichte, Dramen, Rezepte, Monologe, Listen - sogar Horoskope und Schmähgedichte hat der Text-Lieferservice im Angebot.

Unkomplizierter Bestellvorgang und kurze Lieferzeit

Ich habe eine Bestellung aufgegeben, und obwohl ich zuerst mit einer Schmährede gegen die Winterkargheit und gegen die kulturelle Leere geliebäugelt habe, habe ich mich letztendlich für ein knalliges Rezept für euphorische Freude entschieden - verfasst in Form eines Horoskops.
Und wie es bei einem guten Lieferservice so ist, es kommt auf die kurzen Lieferzeiten an. Nur eine Stunde soll es dauern, bis das Rezept geschrieben ist und von mir abgeholt werden kann.
Draußen auf der Chausseestraße vor dem Brecht-Haus dröhnt der Verkehr, während drinnen die Autorinnen und Autoren an ihren Schreibmaschinen sitzen. Zur Begrüßung am Eingang empfängt man mich nicht mit Handschlag, sondern - auch das schon gewohnt - mit dem Sound des ausklingenden Jahres: dem Summen eines Desinfiziergeräts.

Besonders gefragt: erbauliche Texte

"Lässt sich die allgemeine Stimmung im Land anhand der Textwünsche ablesen?", frage ich Paula Fürstenberg, eine der Autorinnen. "Ich habe noch keinen Überblick über die Bestellungen, aber ich glaube, es sind vor allem erbauliche Texte gefragt. War ein schwieriges Jahr, und es ist auch zu spüren, dass unter den Wünschen das Bedürfnis nach Humorvollem, Erheiterndem zum Jahresende zu finden ist. Wir tun unser Bestes."
Das Beste versucht auch Tillmann Severin, der gerade vor der Schreibmaschine sitzt und grübelt: "Ich muss erst mal ein bisschen den Auftrag anschauen. Das ist jetzt hier ein Krimi. Der soll so ähnlich sein, wie der alte Mann und das Meer. Und der Empfänger ist ein pensionierter Radiologe. Da muss ich natürlich überlegen, wie ich auf ein DIN A4 Blatt einen ganzen Krimi bekomme"

Zuspruch aus dem Planetarium

Nun, da hoffe ich, dass meine Bestellung eines Rezeptes in Horoskopform kein Schock für die Autorin Lorena Simmel war. "Der Schock war erst einmal groß. Doch dann überwog die Freude", sagt Simmel. Sie ist schon lange beim Kollektiv dabei und sitzt schon vor dem nächsten Auftrag: Ein polnisches Gedicht. Doch nun zu meinem Text. Lorena Simmel liest ihn mir vor:
Rezept für euphorische Freude als Horoskop
Im November waren viele Dinge ins Stocken geraten, doch jetzt, in der zweiten Dezemberhälfte, kommt einiges wieder in Bewegung.
Der Lethargie-Planet WHY kommt am Wochenende zum Stillstand und wird anschließend bis zum Jahresende rückläufig sein.
Die Sterne deuten auf eine weiche Landung im Himmel der Verdrängung und Verblendung.
Die Projekte feiern endlich Erfolge, Pessimismus weicht Optimismus, das Weihnachtsfest wird gefeiert werden.
Bündeln Sie ihre euphorischen Freudenkräfte, die Umstände erfordern keinen radikalen Kurswechsel, aber einen freudigen.
Ihr Planetarium für euphorische Astrologie

Literatur für das, was passiert: "Pop-Up-Store. Literarische Krisenpost zugunsten von Menschen auf der Flucht"
Noch bis Freitag, 11.12.2020 im Berliner Literaturforum im Brecht-Haus

Mehr zum Thema