Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Flüchtlingspolitik
"Das ist ein ideologisches Minenfeld"

Der Politologe Werner Patzelt hat kritisiert, dass in Deutschland ein Gesamtkonzept für die Asyl- und Einwanderungspolitik fehlt. Man habe sich in Illusionen gewogen, etwa der, dass eine zivilgesellschaftliche Willkommenskultur dafür sorge, dass die Probleme verschwinden. "Aber so wird es nicht sein und folglich sehen wir jetzt viele Illusionen zerstieben", sagte Patzelt im DLF.

Werner Patzelt im Gespräch mit Jochen Spengler | 26.08.2015
    Der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt
    Der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt (picture alliance/dpa/Arno Burgi)
    Jochen Spengler: Den gesamten Komplex Flüchtlingskrise und Flüchtlingspolitik wollen wir nun mit dem Politikwissenschaftler Professor Werner Patzelt besprechen. Er lehrt normalerweise an der TU Dresden, aber wir erwischen ihn heute Abend telefonisch in der Türkei. Guten Abend, Herr Professor.
    Werner Patzelt: Guten Abend.
    Spengler: Herr Patzelt, tagelang war Frau Merkel vom Koalitionspartner und den Oppositionsparteien aufgefordert worden, endlich klar Stellung zu beziehen zur Flüchtlingskrise und zur Fremdenfeindlichkeit, zur Gewalt. Das hat sie nach einigem Zögern heute gemacht und klare Worte in Heidenau gefunden. Waren die auch aus Ihrer Sicht überfällig?
    Patzelt: Die klaren Worte, die dahin zielten, dass es sich nicht gehört, zu Hilfsbedürftigen und Asylbewerbern sich so feindlich und kriminell aufzuführen, wie das in Heidenau und freilich an anderen Orten auch manche getan haben, das war notwendig, war wünschenswert, war freilich auch keine Überraschung, dass die Kanzlerin diese Position vertritt.
    Das was sie nicht sagen kann, auch nicht sagen konnte, nicht sagen wollte, weil es wirklich schwierig ist, ist, wie es denn nun konkret weitergehen soll mit der Bewältigung von 400.000 Zuwanderern im letzten Jahr, 800.000 in diesem Jahr und vermutlich nicht viel weniger in den kommenden Jahren, denn die Bürgerkriege um uns herum nehmen ja nicht ab und die Lebensverhältnisse in Afrika werden sich übers Jahr auch nicht so weit verändert haben, dass Mittelklasseschichten ihre Kinder nicht nach Europa für ein besseres Leben schicken wollen. Genau die Sorge vor diesen Folgen der Einwanderung nach Deutschland ist es, was viele Leute empört und einige von ihnen zu unsäglichen Aktionen treibt.
    Einwanderungspolitik ist nicht angegangen worden
    Spengler: Das heißt, Sie haben durchaus Verständnis, angesichts dieser Entwicklungen, dieser Zahlen, für protestierende Bürger?
    Patzelt: Für protestierende Bürger, die Ausländer beschimpfen, die Brandsätze werfen, die sich mit der Polizei prügeln, habe ich überhaupt kein Verständnis. Aber es ist einfach so, dass wir hier eines der wichtigen innenpolitischen Probleme vor uns haben, wie es ja auch der Vizekanzler und SPD-Vorsitzende gesagt hat, die Einwanderungspolitik ist unser großes innenpolitisches Thema, und dieses ist noch nicht vernünftig angegangen worden, weil es eine lange Zeit ja auch nur unter humanitären Gesichtspunkten und mit großer Verlegenheit ob der auch harten zu ergreifenden Maßnahmen von der politischen Klasse aufgegriffen worden ist.
    Heidenau: Solche Besuche sind gute Symbolpolitik
    Spengler: Herr Professor Patzelt, würden Sie dann sagen, dass solche Besuche vielleicht notwendig sind, am Ende aber doch Symbolpolitik, die etwas davon ablenkt, dass die bundesdeutsche Politik mit ihrem föderalen Kompetenzwirrwarr offenbar nicht vorbereitet ist auf diese Flüchtlingszahlen, und hätte sie vorbereitet sein müssen und können?
    Patzelt: Natürlich sind solche Besuche Symbolpolitik, genauso wie wenn der Verteidigungsminister zu deutschen Truppen irgendwo in der Welt reist. Dass es Symbolpolitik ist, mindert nicht den Wert, denn in der Politik wird vieles über Symbole vermittelt, und indem die Kanzlerin, indem der Bundespräsident sich in Flüchtlingslager begeben und hier in Bezug auf das humanitär Notwendige, auf die richtige menschliche Grundhaltung zu Flüchtlingen die notwendigen Worte finden, leisten sie unserem Gemeinwesen schon einen wichtigen Dienst. Aber in der Politik geht es auch um Instrumentelles, um praktisch Wirksames, und darüber hat die Kanzlerin noch nichts gesagt. Man versteht auch warum, weil es noch keine klare Politik gibt.
    Der Innenminister bemüht mal dieses und mal jenes und es sind auch die Entscheidungen, die zu treffen sind, keine, die innenpolitisch auf große Freude stoßen werden. Da wird man etwas tun müssen bei der Beschleunigung der Asylverfahren. Für manche Herkunftsländer wird man sie vollständig aussetzen, etwa dass wer aus Syrien kommt ohne weitere Verfahren hier sein Bleiberecht erhält, dass Menschen aus anderen Staaten, die etwa EU-Beitrittskandidaten sind, von Hause aus keinen Aufenthaltsstatus bekommen. Dann wird man durchsetzen müssen Abschiebungsmöglichkeiten, die dann nicht auf dem Papier stehen, sondern auch in der Praxis oft genug gegen zivilgesellschaftlichen Widerstand durchgesetzt werden, und es geht hin bis zu der Frage, wie man denn jenen großen Sogeffekt lindern kann, der viele Flüchtlinge, die ja bereits in Griechenland oder in Österreich oder in der Slowakei auf sicherem Gebiet und vor politischer Verfolgung und vor Kriegshandlungen in Schutz wären, mit dieser Anziehungswirkung Deutschlands behaftet, die diese dann nach Deutschland weiterholt.
    Das sind alles sehr unpopuläre Themen, das sind alles Entscheidungen, die auf überhaupt nicht viel Wohlgefallen in der deutschen Öffentlichkeit stoßen werden. Folglich versteht man sehr gut, warum die Bundesregierung hier sehr vorsichtig agiert.
    Diskussion über Bundeseinwanderungsgesetz nötig
    Spengler: Fehlt ein integratives Gesamtkonzept für Asylbewerber und Einwanderer?
    Patzelt: Ja, es fehlt. Wir haben wieder viele Forderungen, die unter anderem auch ich erhoben habe, dennoch keine intensive Diskussion über ein Bundeseinwanderungsgesetz. Wir haben noch keine klaren Vorstellungen davon, in welcher Weise ein Bundeseinwanderungsgesetz von Verschärfung der Möglichkeiten, in Deutschland ansonsten etwa über das Asylrecht ein Bleiberecht zu erwerben, wie man das verbinden sollte. Wir haben lange mit der Lebenslüge gelebt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Die einen wollten das nicht hören, weil sie sich vor den Folgen von Einwanderung fürchteten; die anderen fordern das zwar, wollen aber Einwanderungspolitik dann nicht auch gleich mit Integrationspolitik, mit kultureller Integration von Zuwanderern verbunden sehen. Das ist ein ideologisches Minenfeld, um das herum die politische Klasse getänzelt ist, außer wenn man in der Opposition war. Da kann man ja alles und jedes leicht verlangen, ohne später den Kopf dafür hinhalten zu müssen.
    Und die deutsche Gesellschaft hat sich hier in vielen Illusionen gewogen, etwa in der, wenn man nur hinlänglich viel guten Willen mobilisiert, wenn man vor Ort durch äußerst lobenswerte zivilgesellschaftliche Anstrengungen für eine Willkommenskultur sorgt, dann werden die Probleme irgendwie verschwinden. Aber so wird es nicht sein und folglich sehen wir jetzt viele Illusionen zerstören.
    Bund hat Flüchtlingsströme zu verantworten, nicht Kommunen
    Spengler: Das Bundeskabinett hat heute beschlossen: eine Milliarde Euro vom Bund an die Kommunen für die Flüchtlingsunterbringung. Das ist eine Verdopplung der Zahl. Außerdem gibt es Pläne von Bundesinnenminister de Maizière, das Asylrecht zu verschärfen, mehr sichere Herkunftsländer auszuweisen. Würden Sie sagen, das sind erste Schritte in die richtige Richtung?
    Patzelt: Das sind Schritte in die richtige Richtung. Der Innenminister bemüht sich hier. Er kann natürlich auch nur schrittweise vorgehen, weil auch die deutsche Gesellschaft in großen Bereichen in keiner Weise auf die vermutlich zu ergreifenden Maßnahmen vorbereitet ist. Und dass der Bund den Kommunen endlich wenigstens einen nennenswerten Teil der Kosten erstattet, die durch die den Kommunen übertragenen Aufnahmepflichten entstehen, auch das ist überfällig. Schließlich ist die Einwanderung nach Deutschland etwas, was der Bund zu verantworten hat und was nicht von den Kommunen zu verantworten ist.
    Und diese Mehrsummen, die jetzt über die Länder den Kommunen gegeben werden, die schmerzen im Moment wahrhaftig nicht, weil der Bundeshaushalt satte Überschüsse aufweist. Die Frage wird sein, was passiert, wenn die Wirtschaft einmal nicht mehr so gut laufen sollte, wenn die Steuereinnahmen zurückgehen und wenn die Pflicht, einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen, was ja nicht nur Verfassungspflicht, sondern auch inzwischen politischer Konsens ist, zu Umverteilungen und Umschichtungen von öffentlichen Mitteln zwingen wird, und was dann passiert, wenn der Einwanderungskonflikt sich mit einem sozialen Konflikt und damit einem Verteilungskonflikt verbindet, das sollten wir uns lieber im Moment noch gar nicht ausmalen.
    Westbalkan-Konferenz: Mögliche Beitrittskandidaten von Asylliste streichen
    Spengler: Herr Professor Patzelt, am Donnerstag ist die Westbalkan-Konferenz in Wien mit der Bundeskanzlerin. Was sollte dort mindestens erreicht werden?
    Patzelt: Es sollte erreicht werden, dass Staaten, die wir inzwischen als mögliche Beitrittskandidaten der Europäischen Union ansehen, dass diese von der Liste jener Staaten gestrichen werden, aus denen zu kommen in Deutschland unter Umständen ein Asylrecht wirkt. Und obendrein werden die Staaten aus dem Westbalkan uns fragen, wie wir sie denn finanziell unterstützen sollten oder könnten oder wollten, ihrerseits mit den durch ihre Territorien in die übrige europäische Staatenwelt hinein gelangenden Flüchtlingen umzugehen. Und das wird für die Kanzlerin genauso wenig ein Zuckerschlecken wie der heutige Besuch in Heidenau.
    Spengler: Soweit Professor Werner Patzelt. Das Gespräch mit dem Politikwissenschaftler von der TU Dresden haben wir am frühen Abend aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.