Linke Sammlungsbewegung

"Die Union im Kanzleramt ablösen"

Publizist Nils Minkmar (13.11.2009).
Publizist Nils Minkmar © imago / Hoffmann
Nils Minkmar im Gespräch mit Dieter Kassel · 08.06.2018
Eine neue linksgerichtete Bewegung wäre wünschenswert, findet der Publizist Nils Minkmar. Sie müsse vor allem europäisch sein. Ausgrenzungen, wie sie von Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht formuliert wurden, erinnern Minkmar an den Film "Das Leben des Brian".

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Wer als Linker nur an der Seite der armen Deutschen steht, ist noch nicht links. Dort kann auch ein Rechter stehen. Erst wenn ich an der Stelle aller Armen stehe, dann bin ich links. Das hat Gregor Gysi gerade erst im Deutschlandfunk gesagt, und das könnte doch ein schönes Gründungsmotto einer linken Sammelbewegung werden. Die wird vermutlich, ob unter diesem Motto oder einem anderen, bei dem heute in Leipzig beginnenden Bundesparteitag der Linken eher noch nicht gegründet.
Mit Sicherheit wird sie dort aber ein großes Thema sein, und deshalb machen auch wir eine mögliche linke Sammlungsbewegung zum Thema jetzt im Gespräch mit Nils Minkmar, "Spiegel"-Autor, ehemaliger Feuilletonchef der "FAZ" und Kenner nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Politik. Schönen guten Morgen, Herr Minkmar!
Nils Minkmar: Hallo, guten Morgen!
Kassel: Brauchen wir denn eine linke Sammelbewegung in Deutschland?
Minkmar: Ja, es wäre schon wünschenswert, wenn sich sowas finden ließe, denn es ist ja so, dass die Union praktisch schon routinemäßig den Bundeskanzler und die Bundeskanzlerin stellt, und wenn Sie sich mal überlegen, es gab eigentlich nur zwei Regierungswechsel weg von der Union. Das war einmal unter Willy Brandt und einmal mit Gerhard Schröder, dem es gelungen ist, etwas anderes im Kanzleramt zu etablieren als die CDU, und unser Modell besteht durch diese Form von Alternanz. Das heißt, es muss irgendwo eine Bewegung geben, der es möglich ist, die Union aus dem Kanzleramt abzulösen.
Kassel: Man hat es ja schon gemerkt an dem, was Gregor Gysi gesagt hat, was ich gerade zitiert habe. Es müsste aber bei so einer linken Sammelbewegung ja nicht nur darum gehen, die Wähler von jetzt die Linke, die Grünen und SPD irgendwie unter ein Dach zu kriegen, sondern auch ein paar Wähler der AfD.
Minkmar: Ja oder der Liberalen. Das ist mit der AfD natürlich ein Problem, weil das natürlich auch sehr viel kleinbürgerliches Milieu ist, das schon immer sozusagen etwas Reaktionäres gepflegt hat und jetzt irgendwie ein Ventil hat, um diese Gedanken auszudrücken. Die These, dass jetzt gerade die Armen die AfD wählen und die Entrechteten, so quasi als Protest, davon bin ich noch nicht ganz überzeugt.

Rechte Mobilmachung, linke Folklore

Kassel: Ich auch nicht. Dazu gibt es ja auch entsprechende Statistiken, aber es gibt halt auch Statistiken, die sagen, bei der Bundestagswahl haben viele die AfD gewählt, ohne komplett deren Ideologie zu teilen, sondern – mal sehr vereinfacht gesagt –, um die anderen Parteien zu ärgern. Ich meine, es könnte ja schon Ziel sein einer linken Bewegung, zu sagen, wir wenden uns nicht an die Armen, wir wenden uns an die Mittelschicht, an Teile des Bürgertums, die Angst haben vor Globalisierung oder was auch immer und nehmen denen auf eine linke Art und Weise die Angst. Könnte das gelingen?
Minkmar: Das könnte auf jeden Fall gelingen, denn ich glaube, viel Frust und viel Unsicherheit hat nicht nur was mit der Zuwanderung zu tun, sondern auch einfach mit diesen unsicheren Beschäftigungs-, Wohnverhältnissen, mit der ganzen Flexibilisierung, die wir ja so in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, und dem kann man natürlich auch politisch begegnen. Das wäre auf jeden Fall die Aufgabe einer linken Sammlungsbewegung und zwar europaweit, glaube ich.
Kassel: Aber wie sieht es denn europaweit aus? Wir haben zum einen diese vielen Länder, in denen die klassischen sozialdemokratischen Parteien enorme Probleme haben und kurz vor der Bedeutungslosigkeit sind.
Minkmar: Ja.
Kassel: Dann haben wir Länder wie England, wo eine seit Langem existierende Partei, nämlich die Labour-Party, durch Corbyn sich wieder neu erfunden hat, und wir haben Länder, in Spanien, wo es eine völlig neue linke Partei, Podemos, gibt. Also es ergibt sich ja kein einheitliches Bild, aus dem man lernen kann, wie man es macht, oder?
Minkmar: Das stimmt, weil viele dieser linken Erneuerungsbewegungen sind auch so ein bisschen linke Folklore, wenn ich das mal so höflich ausdrücken darf, wo man aber dann gleich wieder andere Probleme bekommt. Die Labour-Party hat ja ein Riesenproblem mit dem Antisemitismus, mit seiner merkwürdig tönenden Kritik an Israel.
Und auch in Frankreich, die France insoumise, das ist ja so eine Ein-Mann-Partei, die hat alles zu bieten, so aus dem traditionell linken Arsenal, aber noch mal: Dieser Anspruch, dass die wirklich mal auch den Staat dann regieren können und was erreichen können für die Leute, der wird für die verdammt schwer einzulösen. Darauf sind die überhaupt nicht vorbereitet. Insofern hat man dann im Moment dann nur rechts so eine Mobilmachung und so eine scheinbare Alternative, und links ist da viel, finde ich, Folklore.
Kassel: Aber Frankreich ist ja auch ein interessantes Zeichen für was anderes: Die Bewegung in Frankreich, wenn man nur den Erfolg als Maßstab für eine bedeutende Bewegung nimmt, ist natürlich eine andere, nämlich Macron und sein En Marche. Ich meine, das heißt "in Bewegung" übersetzt, aber die haben doch nicht ganz unrecht, wenn sie von sich selber immer sagen, wir sind eigentlich weder links noch rechts, wir wollen in dieses Schema gar nicht mehr eingeordnet werden.

"Volksfront von Judäa gegen Judäische Volksfront"

Minkmar: Ja, genau. Vor allem die Franzosen haben ja sehr traditionell dieses ganz starke Rechts-links-Denken, und das wollten sie mal überwinden, weil sie auch gemerkt haben, dass in Deutschland auch etwa unter der Großen Koalition das Leben ja auch ganz angenehm ist und auch viele Erfolge erzielt wurden, und das wollten sie, glaube ich, ein wenig imitieren, so mit den besten Kräften. Aber noch was anderes kommt hinzu, nämlich, dass sich die Parteienlandschaft halt so wenig verändert hat. Wenn Sie sich mal überlegen, diese Parteien kommen eben aus den 50er-Jahren, die wir haben.
Seitdem hat sich fast alles verändert. Wir bewegen uns ganz anders, wir lieben anders, wohnen anders, und so ist praktisch kein Stein auf dem anderen geblieben im Westen, aber die Parteien, die sind eben halt immer gleich. Klar, die Union heute ist nicht mehr die Union, was sie mal war, die SPD ist natürlich längst nicht mehr die SPD, die sie mal war, aber es sind doch immer noch die gleichen Vehikel, da gibt es starke personelle Kontinuitäten, und das ist natürlich merkwürdig. Dann fragt man sich, das ist das Interessante an En Marche, dass sie gesagt haben, wir machen mal, wir vergessen mal die Parteien, die wir bisher hatten und machen was Neues.
Kassel: Damit können wir, glaube ich, nach Deutschland zurückkehren zu dieser Frage einer linken Sammelbewegung hier. Wäre das für Sie ein Ersatz für, sagen wir mal, SPD, Grüne und Linke oder wäre das ein Zusammenschluss dieser drei?
Minkmar: Es müssten sich schon Kräfte aus diesen drei Parteien, und ich finde auch, ehrlich gesagt, die Liberalen, es gibt ja so eine linksliberale Tradition, die würde ich da auch überhaupt nicht ausschließen wollen, aber auf jeden Fall muss man auch verschiedene Trägerschichten in der Gesellschaft dafür gewinnen. Deswegen fand ich auch diesen Essay von Sahra Wagenknecht und Herrn Stegemann in der "Zeit" so befremdlich, weil es da sehr viel um Ausgrenzung ging. Wir wollen so links sein, aber nicht so universalistisch wie ihr, und wir wollen diese Linke und nicht jene Linke.
Das ist aus dem "Leben des Brian", das ist wieder Volksfront von Judäa gegen Judäische Volksfront, was man da spielt. Das ist natürlich keine Sammlungsbewegung. Eine Sammlungsbewegung muss erst mal so ein paar Basics aufstellen, was man ökologisch möchte, was man sozial möchte, wie man einen Sozialstaat … und muss vor allem europäisch sein. Wir können ja nicht mehr dieses Spiel spielen Nord- gegen Südländer und die einen gegen die anderen. Genau das Gegenteil müssen wir hier angehen.

Die Wähler brauchen eine Alternative

Kassel: Ich würde ein bisschen zugespitzt sagen, das, was Sie jetzt zum Schluss erklärt haben, ist für mich aber auch der Satz, wir bräuchten eine linke Sammlungsbewegung, wir werden sie aber nicht kriegen, zumindest keine funktionierende, denn wenn ich mir vorstelle, wie sich jetzt die FDP mit den Grünen über Wirtschaftsfragen einigt und wie sich die Linken mit der SPD über zum Beispiel Löhne und über die Macht der Gewerkschaften unterhalten, da kann ich mir keine Einigung vorstellen.
Minkmar: Ich auch nicht, und das ist halt die große, finde ich, historische Verantwortung der Leute, die in diesen Parteien gerade am Ruder sind, weil das natürlich der Union auch wirklich viele, viele Jahre das Kanzleramt sichert, denn Angela Merkel hat ja eine ganz gute Riege schon um sich geschart, hat auch Nachfolgerinnen schon ins Auge gefasst, und es ist da überhaupt niemand zu sehen, der da mal für eine Alternative sorgt. Das ist aber der Job dieser Parteien.
Es ist nicht der Job auch der SPD, da mit Spiegelstrichen dann jede Mietkorrektur oder so …, das auch, das ist auch alles ehrenwert, aber vor allem müssen die Wähler wissen, okay, wenn wir nicht mehr zufrieden sind mit der Kanzlerin, mit der CDU, dann gibt es jemand anders, der das übernimmt, und damit ist die Bundesregierung, die Bundesrepublik auch sehr gut gefahren, dass es diese Alternative gab. Es gab die Kohljahre, es gab die Schröderjahre oder in der Zeit meiner Eltern eben die Kiesinger-CDU, dann die Willy-Brandt-SPD an der Regierung, so, und wenn wir das ausschalten, kriegen wir ein wirkliches Problem.
Kassel: Ich glaube, dem wird niemand widersprechen, egal, wo er politisch steht. Der Journalist und "Spiegel"-Autor Nils Minkmar war das über den Sinn und die Chancen einer linken Sammlungsbewegung. Vielen Dank fürs Gespräch!
Minkmar: Herzlichen Dank!
Kassel: Danke, tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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