Ling Ma: "New York Ghost"

Postapokalyptische Pandemiegeschichte

04:52 Minuten
Das Buchcover "New York Ghost" von Ling Ma ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
"New York Ghost" von der chinesisch-amerikanischen Autorin Ling Ma wird vom Verlag nicht zu Unrecht als "Roman der Stunde" vermarktet, meint Sigrid Löffler. © Deutschlandradio / CulturBooks
Von Sigrid Löffler · 04.05.2021
Audio herunterladen
Eine Seuche verwandelt die USA in eine Totenwelt. Eine junge Frau schlingert durch ihr prekäres Leben, streift am Ende als letzte Überlebende durch New York. Lange vor Corona erschien „New York Ghost“, der raffiniert erzählte Debütroman von Ling Ma.
Im Jahr 2018, also lange vor der Pandemie, erschien in den USA ein dystopischer Roman, in dem eine aus China eingeschleppte Seuche, das Shen-Fieber, nicht nur New York entvölkert, sondern sich weltweit verbreitet. Nun ist "New York Ghost", der Erstlingsroman der chinesisch-amerikanischen Autorin Ling Ma, Jahrgang 1983, auch auf Deutsch erschienen.
Da er mit unheimlicher Hellsicht unsere pandemische Gegenwart vorwegnimmt und sich deren Folgen ausmalt, vermarktet ihn der Verlag nicht zu Unrecht als "Roman der Stunde".

Letzte Überlebende plündern und vegetieren dahin

Geschildert wird, wie das Shen-Fieber Amerika in eine post-apokalyptische Totenwelt verwandelt, in der die letzten Überlebenden entweder als fiebernde Zombies vegetieren oder als noch nicht infizierte Horden marodierend umherziehen und verlassene Shopping Malls und Privathäuser ausplündern.
Die Autorin Ling Ma, die wie ihre Romanheldin Candace Chen in China geboren wurde und als Sechsjährige in die USA kam, verschränkt diese endzeitliche Pandemie-Geschichte mit einem autobiografisch inspirierten zweiten Erzählstrang.
Darin wird die Vorgeschichte der Heldin vor Ausbruch der Seuche erzählt – und die ist ein Mix aus Migrationsgeschichte, Arbeitswelt-Satire, Globalisierungs- und Konsumkritik sowie Generationsporträt urbaner Millennials. Wie alle jungen Leute im Roman, die zu Jahrtausendbeginn erwachsen wurden, schlingert Candace als orientierungs- und wurzellose Schlafwandlerin durch ihr prekäres Leben – die Verkörperung der Vereinzelung bindungsloser Individuen im Spätkapitalismus.

Erzählsphären raffiniert verknüpft

So unterschiedlich diese beiden Erzählsphären auch wirken, so raffiniert werden sie von der Autorin miteinander verknüpft und ineinander gespiegelt – durch narrative Kunstgriffe wie Parallelisierungen von Themen und Verschränkung oder Umkehr von Motiven. Erst wenn man den Roman als Ganzes überblickt, erkennt man die durchdachte Kunstfertigkeit der Romanstruktur.
Die Heldin Candace, Tochter chinesischer Einwanderer in Salt Lake City/Utah, driftet nach New York und landet in einem eintönigen Bürojob: In einem Verlag koordiniert sie die Produktion von Bibeln, maßangefertigt nach den schrägsten Sonderwünschen der Kunden.
Die doppelte Ironie dieser grimmigen Satire auf die Arbeitswelt unter Globalisierungsbedingungen: Da praktisch jedermann bereits eine Bibel besitzt, geht es nur darum, den Konsumenten dasselbe Produkt in anderer Verpackung nochmals zu verkaufen. Dabei wird die Produktion des heiligen Buches der Christenheit aus Kostengründen in Billiglohn-Druckereien in Südchina ausgelagert.

Schaurige Zombie-Roadnovel

Nachdem die Menschen wegen des Shen-Fiebers in Panik New York verlassen, postet Candace auf ihrem Fotoblog mit Namen "New York Ghost" Bilder von ihren Streifzügen durch die gespenstisch leere Stadt. Als letzte Überlebende wird sie damit selbst zum Gespenst, zum New York Ghost, ehe auch sie ins Umland flieht.
Von da an nimmt der Roman die Form einer schaurigen Zombie-Roadnovel an. Candace wird von einer Art Sekte aufgeklaubt und zieht mit ihr auf Geheiß ihres messianischen Anführers Bob Richtung Chicago, wo er seinen Anhängern das Überleben in einer sicheren "Anlage" verspricht.
Unterwegs brechen sie plündernd in Privathäuser ein, in denen sie oft auf Fiebrige oder Tote stoßen. Das Shen-Fieber verwandelt seine Opfer in Zombies, sinnlos gefangen in der ewigen Wiederholung leerer Alltagsroutinen bis zum Tod oder bis zum Gnadenschuss durch Bobs Bande.

Überraschende Pointe am Schluss

Die "Anlage" entpuppt sich schließlich als leer stehendes Einkaufszentrum. Dort etabliert Bob ein paranoides Gewaltregime. Fluchtversuche werden grausam bestraft.
Der Autorin Ling Ma gelingt am Ende noch eine überraschende Schlusspointe. Sie macht damit "New York Ghost" zu einem der bemerkenswertesten Debütromane der letzten Jahre.

Ling Ma: "New York Ghost"
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Zoë Beck
CulturBooks Verlag, Hamburg 2021
360 Seiten, 23 Euro

Mehr zum Thema