Lindsey Fitzharris: "Der Horror der frühen Medizin"

Beinamputationen, Brustentfernungen, Bauchöffnungen

Bei Operationen ging es früher drastisch zu - ein neues Buch berichtet davon
Bei Operationen ging es früher drastisch zu - ein neues Buch berichtet davon © picture alliance/ dpa / Everett Collection / Suhrkamp Verlag
Von Susanne Billig · 10.08.2018
Wer Berichte über die Anfänge der modernen Chirurgie liest, ist froh, dass er heute leben darf. In ihrem neuen Buch beschreibt Lindsey Fitzharris den ganzen Horror der frühen Medizin - und stellt uns einen Helden vor, der Tausenden das Leben rettete.
Der Londoner Chirurgieprofessor Robert Liston stand für Schnelligkeit und rohe Gewalt, erzählt Lindsey Fitzharris in "Der Horror der frühen Medizin" – und führt ihr Publikum mit süffiger Sprache mitten ins Herz der Finsternis: Da die Narkose noch nicht erfunden war, setzten sich Patientinnen und Patienten mit Händen und Füßen gegen die drohende Operation zur Wehr, selbst wenn sie Heilung ersehnten. Manche flohen noch vom OP-Tisch und verbarrikadierten sich auf den Toiletten.
Lag ein Patient aber erst festgezurrt vor dem Chirurgen, fiel dieser blitzschnell über ihn her, drückte mit der einen Hand Blutgefäße zusammen oder zersägte Knochen, während er mit der anderen Sehnen und Muskeln durchtrennte. Liston arbeitete so rasant, dass er in seinem Furor schon mal versehentlich ein Gliedmaß zu viel wegschnitt oder einem Assistenten die Finger abtrennte.

Schwer entzündete Wunden voller Maden

Beinamputationen, Brustentfernungen, Bauchöffnungen bei vollem Bewusstsein, anschließend schwer entzündete Wunden voller Maden – das war im 19. Jahrhundert Usus, beschreibt die Medizinhistorikerin. Robert Liston, der sich für die Professionalisierung der Chirurgie stark machte, arbeitete vor allem deshalb so rasant, weil allein seine Schnelligkeit dem Patienten eine Überlebenschance bot, ansonsten wäre der Blutverlust nicht kontrollierbar gewesen.
Der Hauptheld des Buches aber, der berühmte Joseph Lister, wollte von Schnelligkeit nichts wissen. Er legte sein Augenmerk direkt auf die Ursache der immens hohen Sterblichkeit in den Krankenhäusern – die völlige Missachtung jeglicher Hygiene.
Damals trugen Ärzte, die von Mikroorganismen noch nichts wussten, ihre eitrigen, mit Leichengiften verschmierten Kittel voller Stolz, fassten mit nackten Händen erst in Tote, dann in OP-Wunden und aßen hernach ihr Frühstücksbrot – weshalb auch sie selbst in den Krankenhäusern wie die Fliegen an Infektionskrankheiten starben.

Tod aus übertragenen Körperflüssigkeiten

Joseph Lister ahnte, dass der Tod aus übertragenen Körperflüssigkeiten kam. Mit einem strengen Desinfektionsregime rettete er Tausende von Leben und musste dennoch gegen die Borniertheit seiner Zunft ankämpfen, die sich für die Säuberung von OP-Wunden und Händewaschen nur zögernd erwärmen konnte.
Das ist schmissig und packend geschrieben, randvoll mit hautnahen Einblicken in eine untergegangene, brachiale Chirurgie und eng entlang am Leben spannender Medizinpioniere. Leider belichtet das Buch die enge Verzahnung von Medizin und Macht zu wenig und hält sich stattdessen an den Fortschrittsmythos, wonach die Medizin des 19. Jahrhunderts nur der Erlösung durch moderne Technik bedurfte, um human zu werden.
Doch Joseph Lister kämpfte nicht gegen Quacksalber und Kurpfuscher, wie der Untertitel des Buches behauptet, sondern gegen die arrivierten Professoren seiner Zeit. Inhumanität und Arroganz ziehen sich, neben allem Wertvollen, wie ein roter Faden auch durch das Medizin- und Krankenhausgeschehen des 20. und 21. Jahrhunderts.
An mangelndem technischen Fortschritt liegt und lag das nie. Das ist die bedrückende Wahrheit.

Lindsey Fitzharris: "Der Horror der frühen Medizin – Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber & Knochenklempner"
Übersetzt von Volker Oldenburg
Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2018
276 Seiten, 14,95 Euro

Mehr zum Thema