Liebhaber der weißen Pracht

26.12.2009
Erich Kästner liebte Schnee, was nicht nur sein Roman "Drei Männer im Schnee" und die finale Keilerei in "Das fliegende Klassenzimmer" zeigen. Schneelandschaften galten ihm als Sehnsuchtsorte, was dieser Sammelband mit Schneeanekdoten- und -geschichten unterstreicht.
Eine berühmte Kampfszene der deutschen Literatur findet auf einem Bauplatz statt, mitten im Winter, mitten im Schnee: Ein Klassenkampf in der doppelten Bedeutung des Begriffes, denn es sind Gymnasiasten und Realschüler, die in Erich Kästners Roman "Das fliegende Klassenzimmer" gegeneinander antreten. Die winterliche Szenerie ist in der Darstellung des Gerangels von großer Bedeutung: die Kälte, die durch die Jacken der Schüler dringt, der gefrorene Boden, der die Stürze besonders schmerzhaft macht, und natürlich der Schnee, denn die Prügelei endet als gepfefferte Schneeballschlacht.

Dass einer der Höhepunkte der berühmten Kinder- und Jugendbücher Erich Kästners im Schnee spielt, ist kein Zufall. Kästner liebte, verehrte, pries und beschrieb den Schnee so leidenschaftlich und nachdrücklich wie kaum ein anderer Autor. Schneelandschaften und verschneite Hochgebirge galten Kästner als Sehnsuchtsorte und, zumal in den 30er und 40er-Jahren, sehr oft auch als seelisch-geistige Fluchtorte.

"Ach, ist Schneeluft für das Herz gut", seufzte er in einem Brief an seine Mutter, als er sich im Winter in den Alpen aufhielt. Auf einen Winterurlaub in Kitzbühel geht auch Kästners Roman "Drei Männer im Schnee" aus dem Jahr 1934 zurück. In seinen Briefen und Gedichten, in Romanen, Erzählungen und zahllosen Feuilletons hinterließ die Liebe zum Schnee deutliche Spuren.

Die Slawistin und Übersetzerin Sylvia List, die bereits das "Große Erich Kästner Buch" ediert hat, legt mit "Kästner im Schnee" nun einen motivischen Auswahlband vor, eine Art Kästner'sche Phenomenologie des Schnees. Ums "Obensein" ging es dem 1899 in Dresden geborenen Schriftsteller vor allem, wenn er mit einer der neuen Zahnradbahnen, Standseilbahnen oder Seilschwebebahnen, die in den 20er-Jahren einen wahren Bauboom erlebten, zu Bergstationen hinauffuhr und lange Sonnenbäder genoss. Denn Kästner war kein Wintersportler, seit seiner Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg litt er an einem schwachen Herz. Aber er war ein passionierter Betrachter des Schnees - jener leeren, weißen, gleichsam ahistorischen und unbeschriebenen Fläche, deren Symbolik in der deutschen Literatur und der deutschen Philosophie von Thomas Mann bis Martin Heidegger eine große Rolle spielt.

All diese Bezüge durchkreuzen den Band "Kästner im Schnee", der sich zugleich höchst amüsant als Sammlung von Schneeanekdoten, Schneegeschichten und Schneeversen lesen läßt – und als Sammlung süffisanter Hotelgeschichten. Denn Erich Kästner liebte nicht nur den Schnee, er liebte auch die Nobelherbergen der Wintersaison, die berühmten Grandhotels, in denen er abstieg und, wenn er am Nachmittag ins Tal zurückgekehrt war, das gesellschaftliche Treiben verfolgte.

Besprochen von Ursula März

Erich Kästner: Kästner im Schnee
Herausgegeben von Sylvia List
Atrium Verlag, Zürich 2009
201 Seiten, 12 EUR