Liebesgeschichte mit tragischem Helden

Rezensiert von Roland Krüger · 15.05.2006
Das Diplomatenleben in einem lateinamerikanischen Land gibt den Hintergrund für Arnon Grünbergs neues Werk ab. "Gnadenfrist" ist spannend, oft ausgesprochen komisch und sowohl sprachlich wie auch inhaltlich kompromisslos-drastisch. Grünberg versteht es wieder einmal, beklemmende Situationen durch komische Einfälle ins Groteske aufzulösen und die Fehlbarkeit des Menschen zu zeigen.
Jean-Baptist Warnke ist der zweite Mann in der holländischen Botschaft in Lima. Mit seinem Leben ist er zufrieden. Ambitionen hat er nicht - was aber nicht ihn, sondern nur seine Frau ärgert. Täglich hat er einen bis zwei Briefe zu schreiben und dem Botschafter jeden Nachmittag plaudernd Gesellschaft bei einer halben Flasche Wein zu leisten.

Eines Tages trifft Warnke bei seinem mittäglichen Besuch in einem Café auf Malena, eine junge Studentin. Ihr gegenüber gelingt es ihm nicht, seine kühle Reserviertheit, auf die er eigentlich so stolz ist, aufrecht zu erhalten. Als Malena ihn zu einer Tanzvorstellung einlädt, verliebt er sich in sie, und sein regelhaftes Leben gerät aus den Fugen. Er schreibt holprige spanische Liebesgedichte für Malena, bringt es aber nicht übers Herz, seiner Frau die Neuigkeiten zu beichten. Malenas Bitte, kleine Päckchen für sie zur Post zu bringen, erfüllt er allzu gerne, ohne wissen zu wollen, was er da eigentlich transportiert.

Im Dezember 1996 bittet ihn Malena, nicht zum traditionellen Weihnachtsempfang in die japanische Botschaft zu gehen - ein Termin, den er mit Freuden sausen lässt. Als es auf dem Botschaftsempfang zu einer Geiselnahme durch militante Guerillakämpfer kommt, wird Warnke schlagartig klar, in wen er sich verliebt hat - ein Mitglied der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru. Bei der blutigen Beendigung der bis in den April dauernden Geiselnahme auf Befehl des umstrittenen Präsidenten Fujimori durch peruanische Truppen kommen alle Geiselnehmer, also auch Malena, ums Leben.

Für Warnke ist das der Absturz. Er verliert nicht nur die Geliebte, sondern auch seine Stelle an der Botschaft, weil Fotos aufgetaucht sind, die ihn bei mehreren Rendezvous zeigen. Warnkes Frau kehrt mit den beiden Töchtern zurück nach Holland, er aber bleibt, und bringt in einer katastrophalen Kurzschlusshandlung seinen "Auftrag" zu Ende.

"Gnadenfrist" ist nur am Rand eine politische Geschichte. Grünberg wurde 2003 auf der Buchmesse von Bogota durch den holländischen Botschafter auf die Geiselnahme aufmerksam gemacht und empfand die Geschehnisse als passenden Hintergrund für einen Roman, in dem es mehr um persönliche Irrtümer, ungleiche Liebe und das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Gesellschaften geht.

Sehr anschaulich schildert Arnon Grünberg das Diplomatenleben, das in einem lateinamerikanischen Land auf eine ganz spezielle Weise geführt wird. Dem Botschafter und seinem zweiten Mann, Warnke, geht es im Grunde nur darum, so gut wie irgend möglich, das Leben, wie es in den Niederlanden geführt wird, nachzuahmen. Grünberg bezieht keinerlei Stellung zur Politik Fujimoris oder zu den Absichten der Geiselnehmer, sondern schildert lakonisch die Auswirkungen der Geschehnisse auf ein bemerkenswertes Liebespaar.

Insofern ist der Roman eher eine Liebes- denn eine politische Geschichte. Der tragische Held Jean-Baptist Warnke, obwohl diplomatisch geschult und im Umgang mit heiklen Situationen geübt, bekommt sein Leben in dem Moment nicht mehr in den Griff, wo es um tiefe Gefühle geht. Er stellt sachlich fest, dass sein bisheriges Leben ein einziger Irrtum war, räumt aber dann in seinem Leben nicht auf, sondern reagiert nur noch. Da die Ereignisse alles für ihn Vorstellbare übersteigen, steuert Warnke geradewegs in eine Katastrophe hinein. Mit Diplomatie kommt er hier nicht weiter.

Das Buch ist aber keinesfalls ein trauriges Buch. "Gnadenfrist" ist spannend, oft ausgesprochen komisch und sowohl sprachlich wie auch inhaltlich kompromisslos-drastisch. Grünberg versteht es wieder einmal, beklemmende Situationen durch komische Einfälle ins Groteske aufzulösen und die Fehlbarkeit des Menschen zu zeigen. Er macht sich über seine Protagonisten lustig, ohne sie aber je lächerlich zu machen.

Spannend ist das Buch vor allem dort, wo es um Menschliches geht. Dass die Geiselnahme tragisch ausgeht, erfährt man ja durch einen Blick ins Lexikon, falls man es nicht sowieso noch weiß. Grünbergs Fragen sind vielmehr: Wann traut sich Warnke endlich, seiner Frau die Wahrheit zu beichten? Warum vertraut er sich nicht dem Botschafter an? Welche Motive treiben seine Geliebte Malena in die Sackgasse?

Arnon Grünberg wurde 1971 in Amsterdam geboren und lebt heute in New York. Mehrere seiner Bücher hat er unter dem Pseudonym Marek van der Jagt publiziert. 1988 als "asoziales Element" von der Schule verwiesen, widmet er sich in seinen Romanen und Erzählungen gern Menschen, die aus der Bahn geworfen werden. Mit "Gnadenfrist" ist ihm ein hervorragender Roman gelungen, bei dem jede Bemerkung sitzt, und in dem äußere, sogar authentische Ereignisse mit persönlichen Empfindungen gelungen verknüpft sind. Fazit: absolut empfehlenswert!


Arnon Grünberg, Gnadenfrist
Diogenes Verlag, Zürich 2006, 153 Seiten