Liebesbriefe über Gefängnisgrenzen hinweg

13.04.2010
Die beiden Buchstaben A und X stehen für Aida und Xavier – ein Liebespaar, das getrennt ist. Aida arbeitet als Apothekerin, Xavier, ihr Geliebter, ist Schweißer. Er hat vernarbte Handgelenke, kann singen und ein Flugzeug fliegen. Nun ist er im Gefängnis, verurteilt zu zweimal lebenslänglich.
Aida und Xavier sind politische Aktivisten. Widerstandkämpfer in einer Stadt, die den Namen Suse trägt und die erfunden ist, in einem Land, das der Autor nicht eindeutig lokalisiert. Suse könnte in Mittelamerika liegen, in Afrika oder im Gazastreifen. Das Klima dort ist extrem, die Lebensverhältnisse sind es auch. Immer wieder kreisen Drohnen über der Stadt, werden Häuser durch Granatenbeschuss zerstört, sterben Zivilisten. F16-Kampflugzeuge donnern über die Dächer hinweg, es kommt zu Razzien, Panzer zielen auf Demonstranten. Soldaten sind hier die Feinde der Bevölkerung, soviel ist klar, warum, wieso, das bleibt offen.
Aida beschreibt für den Geliebten ihren Alltag. In ihren Briefen versucht sie, ihm Leben in seine dunkle, enge Zelle zu schicken, ihn teilhaben zu lassen an den Geschichten der Nachbarn, dem Rhythmus der Jahreszeiten, dem politischen Kampf. Sie beschreibt, wie sie Essen zubereitet, Marmelade einkocht, welche Landschaften sie durchquert, berichtet von kopulierenden Hunden, der Versorgung von Kranken.

Von ihrer Hände Arbeit - und der anderer - berichtet sie ebenso: aus der Welt der Bäcker, Busfahrer, Eisenschmelzer und Polsterer. Und auch von ihren Gedanken, Gefühlen, und Erinnerungen an die gemeinsame Zeit.

Häufig versieht sie ihre Briefe mit kleinen Zeichnungen von Händen – Symbole der Solidarität und Zärtlichkeit, "Handreichungen", die den Gefangenen mit der Außenwelt verbinden. Neben der Liebe, die aus Aidas Briefen spricht, erfährt der Leser von menschlicher Not: von Krieg, Exil, Einsamkeit, Tod, aber auch vom Kampf gegen Ungerechtigkeit.

Die Kunst des Autors besteht in seiner tief demokratischen Erzählhaltung: Dinge, Menschen, Orte und Geschehnisse behandelt er gleichberechtigt. Sie ergänzen einander, schärfen den Blick auf das Wesentliche des Lebens. Feste Strukturen oder formale Begrenzungen eines literarischen Genres löst er auf.

Am ehesten könnte man "A und X" ein episches Gedicht nennen. Zeit und Raum haben darin ebenfalls keine klaren Konturen – John Berger schildert globales Dasein und archetypische Gefühle. Seine Aida ist ein weiblicher Orpheus mit der Erfahrung ihres mythologischen Vorgängers. Sie hat verinnerlicht, dass sie den Geliebten aus der Unterwelt nicht mehr zurückholen kann. Ihre Briefe sind die Brücke, auf der sie sich treffen. Immer wieder.

Das Schreiben ist hier Gesang und Widerstand gegen eine unakzeptable Realität. Ästhetik, Moral und Emotion finden bei Berger zu einem Dreiklang zusammen, wie er in der zeitgenössischen Literatur viel zu selten hörbar ist.

Besprochen von Carsten Hueck

John Berger: A und X. Eine Liebesgeschichte in Briefen
Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes
Carl Hanser Verlag, München 2010
205 Seiten, 18,90 Euro