Libyen

Eine Million Migranten und keiner kümmert sich

Flüchtlinge, die von der libyschen Marine nördlich von Tripoli festgenommen wurden, warten am 5.10.2015 in einem Dock im Hafen der Hauptstadt Libyens.
Flüchtlinge, die von der libyschen Marine nördlich von Tripoli festgenommen wurden, warten in einem Dock im Hafen der Hauptstadt Libyens. © picture-alliance / dpa / EPA
Alexander Bühler im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 09.06.2016
Drei Regierungen, 2000 Milizen und bis zu einer Million Flüchtlinge - Libyen, sagt der Journalist Alexander Bühler, ist "in einem völligen Chaos gefangen".
Korbinian Frenzel: Es gibt so viele Krisenherde in unserer direkten Nachbarschaft, dass wir kaum hinterherkommen, all das zu beleuchten, was beleuchtet müsste. Die Situation in Libyen zum Beispiel, ein Land, das sich im Arabischen Frühling auch mit westlicher militärischer Hilfe vom Dauerdiktator Gaddafi befreit hatte, ein Land, das seither keinen wirklichen Neuanfang gefunden hat, das zerrissen ist zwischen verschiedenen Milizen. Ein Land, das außerdem als Tor zu Europa eine Riesenzahl Flüchtlinge zu verkraften hat. Es gibt nur wenige westliche Journalisten, die sich nach Libyen wagen. Einer der wenigen ist Alexander Bühler, der gerade zurückgekommen ist und jetzt hier bei mir im Studio. Guten Morgen!
Alexander Bühler: Guten Morgen!
Frenzel: Wie explosiv ist die Lage in Libyen zurzeit? Was haben Sie erlebt?
Bühler: Die Lage ist extrem schwierig. Es gibt drei Regierungen im Land momentan, zwei davon – also die eine ist quasi im Abtreten, die neue, die Übergangsregierung steckt noch in den Kinderschuhen in Tripolis, und das Land ist eben in einem völligen Chaos gefangen. Es gibt insgesamt 2000 Milizen, die das Land unter sich aufgeteilt haben, und einige arbeiten eben jetzt der neuen Übergangsregierung zu, die international anerkannt ist und die Erfolg haben – um deren Erfolg man eben wirklich bangen muss, die aber eben auch von allen angeschoben wird, und man hofft, dass die es schafft.

Wie eine Black Box

Frenzel: Wie frei kann man sich in einer solchen Situation als Journalist bewegen in dem Land, gerade als westlicher Journalist?
Bühler: Es geht einigermaßen, man kann sich einigermaßen frei bewegen, wenn man eben einen guten Verbindungsmann dort hat. Den habe ich tatsächlich. Man kann dann eben in fast alle Viertel rein. Man kann nicht unbedingt länger dort bleiben. Ich habe es jetzt mit Tripolis probiert. Es gibt natürlich bestimmte Teile, die vom IS beherrscht werden, also von Libyen, da kann man nicht rein. Es gibt andere Landesteile, die einfach schwer zu erreichen sind, die in einem Krieg gefangen sind, der nicht – den man nicht einschätzen kann. Da kann man immer noch nicht hin. Es ist also wirklich eine Black Box.
Frenzel: Was bedeutet das für den Alltag der Menschen, den Sie erlebt haben? Sind das Konflikte, die irgendwo im Hintergrund stattfinden, oder hat das Auswirkungen wirklich auf das, was die Menschen dort täglich erleben?
Bühler: Die Menschen müssen dort irgendwie mit diesem Krieg zurechtkommen. Das heißt, es gibt zum Beispiel kein Bargeld, es gibt nicht genug Bargeld für die Leute, um den Arzt zu zahlen. Manchmal können sie nicht mal mehr ihren Alltag bewältigen. Leute gehen dazu über, ihre Wohnung aufzulösen, ihr gesamtes Hab und Gut in einem Schnellverkauf zu verkaufen, um irgendwie noch Geld zusammenzusammeln, denn die Banken können kein Bargeld mehr ausgeben, das ist vorbei. Das ist eine Folge des Krieges, weil keiner mehr sich traut, das Bargeld, das er hat, auszugeben. Und alle horten es zu Hause in der Angst, dass im nächsten Moment alles zusammenbricht und sie dann auf ihr Bargeld angewiesen sind. Keiner traut den Banken, und das merkt man, und das ist eine unglaubliche Spannung in den Menschen. Man hat mir gesagt, es kann jeden Moment alles Mögliche passieren, und das bedeutet eben eigentlich, dass jeden Moment eine Miliz anfangen kann, mit der anderen zu kämpfen.
Frenzel: Das sind die inneren libyschen Konflikte, die Sie da beschreiben. Libyen ist auch ein wichtiges Durchgangsland. Die "Süddeutsche Zeitung" hat eine große Geschichte darüber, wie viele Afrikaner vor allem in letzter Zeit Libyen wieder als Tor zu Europa nutzen. Von welchen Dimensionen sprechen wir da?
Bühler: Es gibt verschiedenste Schätzungen. Manchmal hört man die Zahl 500.000 Menschen, die da warten, nach Europa zu kommen, manchmal hört man eine Million. Es ist ganz schwierig, diese Zahl wirklich einzuschätzen, denn es gibt die Migranten oder Flüchtlinge, die nach Libyen kommen, die wollen manchmal auch wirklich nur dort arbeiten und dann zurückkehren. Aber manche wollen tatsächlich auch nach Europa weiter.
Frenzel: Und sie kommen ja nur sozusagen in kleineren Gruppen über das Mittelmeer, das heißt, viele sammeln sich in dem Land. Wie sieht das aus, gibt es da größere Flüchtlingslager, gibt es jemanden, der sich kümmert?

Flüchtlinge werden "wie Tiere gehalten"

Bühler: Es gibt tatsächlich niemanden, der sich kümmert. Das ist wirklich das Brutale. An fast jeder Kreuzung stehen eben Schwarze herum aus Schwarzafrika, Subsaharan Africa, die warten darauf, einen kleinen Job zu finden, wo sie dann ihre 30 Dinar, ihre sechs Euro am Tag verdienen. Und dann weiß man, dass es irgendwo in der Stadt oder um jede Stadt herum gibt es dann irgendwie Lager, wo diese Arbeiter, diese Migranten, diese Flüchtlinge eingepfercht werden, wie Tiere gehalten werden, um dann eben in ein Boot nach Europa gesetzt zu werden. Das merkt man auf der Straße, und man merkt, die Libyer selbst, die nehmen die gar nicht wahr, die kümmern sich nicht um die. Die sind zwar da, aber die sind eigentlich nur dienstbare Geister für die meisten Libyer.
Frenzel: Gestern gab es die Nachricht Hunderter Flüchtlinge durch die libysche Küstenwache. Das war mal eine gute Nachricht, aber das ist wahrscheinlich eher die Ausnahme. Oder haben Sie den Eindruck, dass die verbliebenen libyschen staatlichen Strukturen da irgendeine Form der Kontrolle der Situation zumindest noch versuchen?
Bühler: Ich glaube, die libysche Küstenwache, da fängt es allein schon an. Es ist die libysche Küstenwache, welche ist das? Die Küstenwache, mit der ich sprach, von Tripolis – das sind alles Stadtstaaten, das heißt, die Küstenwache in Tripolis hat irgendwie ihre sechs Schlauchboote, auf der sie eine bestimmte Anzahl Menschen retten kann. Was die Küstenwache in dem Nachbarort Sabrata tut, das weiß sie schon gar nicht mehr, das ist nicht mehr ihr Einflussbereich. Und so fragmentiert ist das eben, und so sehr sind auch diese rettenden Elemente tatsächlich ein Teil des Milizenspiels in Libyen selbst.
Frenzel: Der Journalist Alexander Bühler, der unter anderem für die "Neue Züricher Zeitung" gerade in Libyen war, von dort zurückgekehrt hier bei uns im Studio war. Vielen Dank für den Besuch!
Bühler: Gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.