Lewes in Südengland

Die neue Sehnsucht nach der Provinz

05:41 Minuten
Blick auf eine Straße in der englischen Kleinstadt Lewes mit alten kleinen Häusern.
Eine der Folgen der neuen Attraktivität: Die Immobilienpreise in Lewes explodieren. © imago / Loop images / Slawek Staszczuk
Von Ruth Rach · 12.09.2020
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In der Coronakrise zieht es viele Großstädter aufs Land - in Orte wie das südenglische Lewes. Das idyllische Städtchen ist zum Sehnsuchtsort für lockdowngeplagte Londoner geworden. Einheimische wie die Autorin Ruth Rach sehen das mit gemischten Gefühlen.
Schon seit Monaten kommen ganze Prozessionen keuchender Hunde und Hundehalter meinen Berg hoch. Sicher liegt es nicht nur an dem Artikel in der Sunday Times. Während des Lockdowns hat sich halb England einen Vierbeiner zugelegt. Um die Ausgangssperre zu umgehen, die Kinder bei Laune zu halten und nicht völlig zu vereinsamen.
Die Hundehalter spritzen auseinander, wenn ihnen Radsportler entgegenrasen. Letztere sind die Plage aller Wanderpfade geworden, denn dort trainieren sie sich seit Corona gnadenlos auf. Die Ausflügler wiederum sind die Plage vor meinem Haus. Bleiben auf halber Höhe stehen, um Luft zu schnappen und Abfallhäufchen oder Hundekot loszuwerden – direkt vor meinem Gartentor. Seitdem Lewes so attraktiv geworden ist, sammelt sich hier immer mehr Müll an.
Besucher aus London erkennt man daran, dass sie nicht grüßen. Sie starren lieber auf umliegende Immobilien. Neidvoll-verträumt. Zur Freude der örtlichen Makler. Sie erleben einen Boom wie seit Jahrzehnten nicht mehr, sagt Robin Smith von Cubitt and West:
"Die Leute bringen im Durchschnitt etwas mehr als eine halbe Million Euro mit, wenn sie ihre Zweizimmerwohnungen in London verkauft haben. Viele arbeiten im kreativen Bereich. Für sie ist Lewes der ideale Standort: eine Zugstunde von London entfernt, eine Viertelstunde vom Meer und ganz in der Nähe von Brighton. Besonders begehrt sind ältere Cottages mit Charakter. Und auf jeden Fall mit Außenbereich und am liebsten mit Arbeitszimmer, denn sie möchten ja unbedingt von zu Hause aus arbeiten."
Was mich weiterhin am meisten begeistert: in Lewes ist alles fußläufig zu erreichen. Ein paar Gehminuten bergauf sind die "South Downs", ein Naturschutzgebiet mit sanften Hügeln und kühnen Kalksteinfelsen. Ein paar Gehminuten bergab die Cliffe HighStreet: eine Fußgängerzone mit schiefen Wohnhäuschen und kleinen Geschäften, die meisten sind unabhängig. Dazu eine altmodische Einkaufshalle direkt am Flüsschen Ouse. Mit einer Frau an der Tür, die den Besucher an die Maskenpflicht erinnert:
"Unten finden Sie das Café, einen Friseur, den Fleischer, den Fischladen und ein Geschäft mit Süßigkeiten. Oben das Restaurant und Kurzwaren, dort ist es allerdings so eng, dass ich jeweils nur einen Kunden einlassen darf."
Ein hügelige Landschaft mit Feldern, Wiesen und einer weißen Mühle.
Die South Downs sind ein idyllisches Naturschutzgebiet nur ein paar Minuten entfernt von der Stadt.© imago / Loop Images / Slawek Staszczuk
Insgesamt wird es immer enger in Lewes. Wer einmal hier wohnt, will nicht mehr weg. Wegen der wachsenden Nachfrage haben die Preise stark angezogen. Noch haben sie nicht das Niveau von London erreicht, aber junge Einheimische können sich Lewes längst nicht mehr leisten.

Keine Sehnsucht nach der Großstadt

Vielleicht wollen sie ja ohnehin weg. Von wegen, sagen Clemmy und Daisy. Den Nachmittag verbringen die Schülerinnen neben einem Maulbeerbaum im Southover Grange Garden, einem lauschigen Park im Herzen von Lewes mit Bächlein, Meditationsecke und Kunstgalerie.
"Ich bin vor 4 Jahren aus Barcelona hergezogen und musste mich erst mal umgewöhnen", sagt Daisy. "Aber ich fand das toll, wie hier jeder jeden kennt. Es ist eine gute Gemeinschaft."
Und Clemmy sagt: "Ich bin hier aufgewachsen, es ist nicht zu viel los hier und nicht zu wenig. Und es ist richtig altmodisch. Das gefällt mir."
Keine Sehnsucht nach der Großstadt?
Nein, sagen die beiden.

In der Coronakrise kehren die erwachsenen Kinder zurück

Ein paar hundert Meter weiter, im Schatten der alten Burgruine, ein Lesezirkel. Eigentlich ist er Texten des Psychologen Carl Gustav Jung gewidmet. Aber heute stehen die erwachsenen Töchter im Vordergrund, die Lewes vor Jahren den Rücken gekehrt haben und plötzlich wie Boomerangs ins elterliche Haus zurückkehren.
"Meine Tochter lebt in London und denkt darüber nach, in Lewes ein Geschäft für biodynamischen Wein aufzumachen. Sie ist hier aufgewachsen, ist 32 und hat derzeit die Nase voll von London."
Eine andere Teilnehmerin berichtet:
"Meine Tochter wohnt in Londons Canary Wharf, seit dem Lockdown ist das eine totale Wüste, sämtliche Büros und ganze Geschäftshäuser stehen leer. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt, sie hat ihren Job verloren. Jetzt kommt sie regelmäßig nach Lewes, um ein bisschen Luft zu schnappen, aber im Grunde fühlt sie sich einfach total verloren."
Auch das bietet Lewes: genug Möglichkeiten die seelischen Spuren des Großstadtlebens auszukurieren. Kaum ein Ort in England hat, gemessen an der Einwohnerzahl, so viele Psychotherapeuten. Allerdings sind die, wie man hört, zur Zeit restlos ausgebucht.
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